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Ueber die drei Wege des Denkens (1891) 3 2. Drei Gespräche über Religion (1896) 65 3. Ueber die Veredelung des Menschen (1898) 101 4. Drei Gespräche über Metaphysik (1901) 143 5. Ueber den Zweck des Lebens (1904) 197 6. Ueber den Anthropomorphismus (1904) 213 Digitized by Google Digitized by Google VII Vorwort Vorwort Als ich jung war, wünschte ich innig, mich der Philosophie ganz widmen zu dürfen. Es ging aber nicht, weil ich nicht Qeld genug hatte. Denn, ob ich gleich Schopenhauer damals noch nicht kannte, ich sagte mir, die Philosophie ist keine nahrhafte Kuh. Was hätte ich denn zu erwarten gehabt? Schulmeister- dienst und langsame Beförderung bei der gehörigen Rücksicht auf die Forderungen des Staates, der Kirche, und ganz besonders der ordentlichen Professoren, oder aber Kaltstellung bei eigensinniger Versteifung auf das gerade mir als Wahrheit Erscheinende. Dazu kam, dass ich mir nicht zutraute, ein Philosoph erster Classe zu werden, der Gedanke aber, alle Jahre Logik und Psychologie vorzutragen, sowie das alte Stroh der Philo- sophie-Geschichte zu dreschen, mich erschreckte. Frei- lich, es kann ja sein, dass alte diese Erwägungen nicht das Richtige fanden, und dass ich besser gethan hätte, auf die Gefahr des Hungems hin es frisch zu wagen. Länger als ein Menschenalter habe ich mich darum gefragt, aber ich weiss es immer noch nicht Auf jeden Digitized by Google VIII Vorwort Fall bin ich der Philosophie äusserlich untreu gewor- den und habe ihr die längste Zeit nur im Geheimen, oder sozusagen im Nebenamte gedient. Aber mein Herz hat immer ihr gehört. Da ich einmal Persönliches auskrame, will ich ganz offen reden. Nach Reichthum habe ich nicht verlangt Um das Politische habe ich mich nie ernstlich bekümmert, und ich bin kein guter Patriot Aber auch Freundschaft, Liebe, Kunst und Wissenschaft im eigentlichen Sinne sind mir nicht das Wichtigste gewesen. Nach den Grenzen der Erkennt- niss hat es mich getrieben, und im Grenzlande ist mein Zuhause gewesen. Das Ganze ist natüriich eine sonder- bare Anlage, oder, von aussen gesehen, eine Sache der Kopfform, somit kein Gegenstand des Lobes oder des Tadels. Was ich sage, soll ja nur ein paar Auf Sätzen zur Einleitung dienen. Da möchte mir Einer einwer- fen, ich brauchte über so ein paar Aufsätze überhaupt nicht viel Aufhebens zu machen. Mag sein, aber er braucht sie ja nicht zu lesen. Abgesehen davon, dass ich das Wenige, was ich in philosophicis niedergeschrie- ben habe, mit den Augen eines zärtlichen Vaters an- sehe, diese Aufsätze sind mir die Früchte eines lebens- langen Nachdenkens. In Herzensangelegenheiten pflegt man schamhaft und schweigsam zu sein, und deshalb habe ich mich gescheut, darauf los zu reden, viele Worte zu machen und die Sache als Literatur zu be- handeln. Schüchterne Bekenntnisse trage ich vor, und es genügt mir, die Hauptgedanken auszusprechen. Als ich die „Drei Wege" veröffentlicht hatte, schrieb ein Kritiker, es Hesse sich ja darüber reden, aber erst müsste Digitized by Google IX Vorwort. ich doch meine Gedanken ausarbeiten und ins Ein- zelne verfolgen. Eben das widersteht mir; in meta- physischen Angelegenheiten wenigstens kommt es mir schamlos vor, ausgearbeitete Lehren zu geben. Die Metaphysik ist doch keine Wissenschaft wie andere Wissenschaften, sie ist ein Ausblick in dämmernde Fernen, ein Stammeln und Ahnen. Im Grunde kommt es nur darauf an, einen Weg zu finden, der über die Physik hinausführt. Hat man das Princip erkannt, so kann man die Gedanken vortragen, die im Sinne dieses Principes sind. Aber was ist's? Vermuthungen — und Vermuthungen eignen sich nicht zu dicken Büchern. — Noch einiges muss ich vorausschicken. Wenn man über die Physik hinaus will, muss man wissen,, was diese lehrt. Ich habe also einen Abriss der phy- sikalischen Gesammtauffassung geben müssen, und ich habe dabei die atomistische Anschauung zu Grunde gelegt, die bis vor Kurzem allgemein galt. Es fragt sich nur, ob durch die neueren Anschauungen, etwa durch Ostwalds Energielehre, das Alte unbrauchbar geworden sei. Die energetische Betrachtung hat ge- rade für den Philosophen etwas Anziehendes. Allen physikalischen Energieformen kann die seelische Energie entgegen gesetzt werden, also dass die Seele für Andere Arbeit ist. Damit wird betont, dass die Seele Thätigkeit ist, dass es nicht Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen giebt, die man der passiven Materie vergleichen könnte, sondern nur ein Ich, das empfindet, fühlt, denkt. Damit würde der materialistischen Denkweise in der Psychologie Digitized by Google XI Vorwort entgegengearbeitet werden, die mit Empfindungen und Vorstellungen spielt wie der Physiker mit Atomen und Molekülen. Andererseits ist die Vielheit der Energie- formen sehr störend, denn wir wissen nur, dass sie in Arbeit umgerechnet werden können, und dass zum Theile die eine in die andere verwandelt werden kann. Dagegen hat die alte Auffassung den Vortheil, dass sie als einheitlicher und anschaulicher erscheint: Es giebt nichts als bewegte Theilchen, und diesem quali- tativ Gleichen steht das Seelische gegenüber. Ob in der Physik die Energetik oder die Atomistik vorzu- ziehen sei, das ist Sache der Physiker. Für uns ist diese wie jene als Schema brauchbar, denn mehr als ein Schema brauchen wir nicht. Wollte ich mich an Ostwald anschliessen, so müsste ich eben die alten Ausdrücke mit einiger Mühseligkeit in die energetische Sprache übersetzen, aber was wäre damit gewonnen? Ueberdem möchte der Schein entstehen, als nähme ich Ostwalds Lehre an, nach der das Seelische eine den anderen Formen coordinirte Energie ist und in Wärme oder in Licht verwandelt werden kann. Ostwald hat mit dieser Entgleisung seine Energetik zu einem ver- kleideten Materialismus gemacht, der vor dem nackten Materialismus nichts voraus hat. Vielleicht irre ich mich, aber es drängt sich mir der Gedanke auf, die populäre Meinung, wonach der Wille die Hand be- wegt, habe den Physiker irregeführt. Wissenschaftlich betrachtet aber ist irgend ein physikalischer Vorgang im Gehirn Ursache der uns als Handbewegung er- scheinenden Muskelzusammenziehungen, während die Digitized by Google XI Vorwort seelische Reihe mit dem Willen abbricht, wenigstens vom Standpunkte des Individuum aus. Dann will ich noch bemerken, dass meine Hoch- achtung vor der Sprache durch Mauthners Sprachkritik nicht vermindert worden ist. Ich habe mich seufzend durch die drei dicken Bände Feuilleton durchgelesen, habe viele geistvolle Bemerkungen gefunden, aber das Ganze stösst zurQck, weil man sieht, dass die negative Tendenz das Erste ist, und weil sich der Ver- fasser im Orunde auf ganz willkürliche Annahmen stützt. Dass alles auf Zufall hinausläuft, das ist doch kein Er- gebniss sprachlicher Untersuchungen. Manches ist ganz verkehrt, z. B. die Erörterung über den Begriff des Gesetzes, denn die Behauptung, die Naturkundigen sähen in den Naturgesetzen die Ursache der Naturer- scheinungen, kann doch nur Achselzucken hervor- rufen. — Was ich über Metaphysik sage, beruht auf Fech- ners Gedanken. Zum Zeichen dessen und sozusagen als Panier habe ich diesem Bande sein Bild vorge- setzt. Es ist die Nachbildung eines Daguerrotyps, den ich der Familie Fechners verdanke. Zwar ist das allgemein bekannte Greisenbild schöner, aber es ist doch gut zu wissen, wie der Mann aussah, als er den Zend-Avesta vor kurzem geschrieben hatte. Man sieht das mathematische „Organ" recht gut, aber am meisten fällt die enorme Entwickelung der mittleren Theile der Stime auf, der Theile, die nach Gall auf Scharfsinn, Güte, Verehrung deuten. An diesem wun- dervollen Kopfe wenigstens stimmt die Sache. Wenn Digitized by Google XII Vorwort. auch langsam, doch wahrnehmbar wächst die Theil- nahme an Fechners Metaphysik. Manches ist unge- waschenes Zeug (vgl. z. B. Reinhard Liebe, Fechners Metaphysik. Leipzig. Th. Weicher 1903), aber dafür haben Männer wie Des Coudres, Fr. Paulsen, Fr. Ratzel sich als Anhänger erklärt. Bei ihnen wie bei mir bedeutet das Anhangen soviel wie auf demselben Wege gehert Der Eine geht weit mit, der Andere hält auf dem Wege inne, weil er sich vor dem Ungewissen scheut Auch mir fehlt Fechners fröhliche Zuversicht; Ausgang und Richtung sind sicher richtig, aber wird der Steg uns tragen? Manches möchte ich gern glauben, aber ich kann es nicht. Erstaunlich ist, wie schwer die Gedanken, um die es sich hier handelt, in die Köpfe eingehen, denn immer von neuem erlebt man die wunderlichsten Missver- ständnisse. Das tröstet mich insofern, als ich mir deshalb keine Gedanken über die Wiederholungen mache, die ich nicht vermeiden kann. Klarer vermag ich es nicht zu sagen, also bleibt mir nur übrig, das, was ich für wahr halte, recht oft zu sagen. Der theil- nehmende Leser möge mit diesem Bande die Erörte- rungen über Schopenhauers Lehre im IV. Bande ver- gleichen. Manches Psychologische hoffe ich später noch eingehender besprechen zu können. Die einzelnen Aufsätze sind nach der Zeit geord- net, zu der sie niedergeschrieben worden sind. O D Digitized by Google I. Ueber die drei Wege des Denkens. Möbias, Werke. VI. Digitized by Google Digitized by Google 1. Ueber die drei Wege des Denkens. 1. lieber die drei Wege des Denkens. Man nimmt vielfach an, die natürliche Auffassung der Welt, z.B. die, dass wir die Dinge selbst wahr- nehmen, sei unhaltbar und müsse von der wissen- schaftlichen Erkenntniss umgestaltet werden. Nun ist es ja zweifellos, dass die wissenschaftliche Auffassung manches vor der natürlichen voraus hat und Be- ziehungen berücksichtigt, die von dieser ausser Acht gelassen werden. Aber von vornherein erscheint es nicht als wahrscheinlich, dass eine Auffassung fehlerhaft sei, die sich doch nur durch die Beziehungen der Wesen selbst im Laufe der Zeiten gebildet haben kann, und die sich jederzeit praktisch bewährt hat und noch be- währt Es lohnt sich daher, zu fragen, ob nicht die Denkfehler, die man in der Auffassung des natür- lichen Menschen zu finden glaubt, und die in der heutzutage landläufigen Auffassung ganz sicher stecken, aus einer Vermengung der wirklich naiven mit andern Denkweisen entstanden sind. Wäre es so, dann müsste man bestrebt sein, die natürliche Auffassung zu reinigen, nicht zu zerstören. Das Geschäft scheint dadurch er- schwert zu sein, dass doch Jeder bei seinen Ueber- Digitized by Google 1. Uebcr die drei Wege des Denkens. legungen von der Denkart ausgehen muss, die er mit- gebracht hat. Nun aber haben wir trotz des Wider- sinns, den wir im Laufe und Drange des Lebens oft genug ohne grosses Bedenken in uns aufnehmen, nicht nur ein moralisches, sondern sozusagen auch ein in- tellectuelles Gewissen, das sich rührt, wenn ihm be- denkliche Wortverbindungen ausdrücklich vorgehalten werden. Sind wir irre geworden an unserem indivi- duellen Urtheile über das, was denkbar ist oder nicht, so haben wir an der Sprache einen weisen Führer. Wenn irgendwo, so muss in der Sprache das auf- zufinden sein, was dem natürlichen Menschen als Wahr- heit erscheint. Die Aussagen des Sprachgefühls und die des intellectuellen Gewissens werden zusammen- stimmen, wenn sie nicht überhaupt dasselbe sind. Aus diesem Grunde ist es sehr zu bedauern, dass gerade bei Behandlung der allgemeinsten Fragen, vielfach durch Fremdwörter dem Sprachgefühle Gewalt an- gethan wird. Mira in quibusdam rebus verborum pro- prietas est et consuetudo sermonis antiqui quaedam ef- ficacissimis notis signat. Man kann nun thatsächlich drei verschiedene Auf- fassungsweisen unterscheiden, denen jeder Wahrheit be- dingungsweise zukommt. Man kann sie als subjective, objective und transsubjective, oder als psychologische, physikalische und metaphysikalische Denkweise be- zeichnen. Die erste betrachtet die Dinge für uns, die zweite die Dinge unter einander, die dritte die Dinge für sich. Alle drei laufen im gewöhnlichen Leben und gewöhnlich auch in der Wissenschaft durch einander. Digitized by Google 1. Ueber die drei Wege des Denkens. wenn auch die dritte in der Regel nur in ihren An- fängen vorhanden ist. Aus der unberechtigten Ver- mengung der Auffassungsweisen entstehen die wichtig- sten Denkfehler. Der heutzutage häufigste ist der, dass die physikalische Denkweise für die unbedingt wahre gehalten wird. Man thut dann, als ob der erste und dritte Weg volksthümliche Irrthümer wären. Im wirk- lichen Leben freilich muss man doch auf ihnen gehen, aber in der Studirstube braucht man daran nicht zu denken. I. Wenn wir versuchen, über unser Verhältniss zur Welt nachzudenken, so müssen wir uns zunächst nach einem sicheren Ausgangspunkte umsehen. Der Ge- danke liegt nahe, dass es am besten sei, in den all- gemeinsten Fragen von den allgemeinsten Begriffen auszugehen. In der That haben auch die alten grie- chischen Philosophen diesen Weg eingeschlagen. Die Eleaten z. B. gingen von dem Begriffe des Seins aus, und gerade dieses Beispiel zeigt, dass der eingeschla- gene Weg ein Holzweg ist Sieht man von allem In- halte des Geschehens ab, so bleibt der Begriff des Geschehens allein übrig, zieht man diesem sozusagen auch noch die letzte Haut ab, indem man von der Zeit absieht, so kommt man zu dem Begriffe des Seins, einem wesenlosen Schatten. Inhalt und Umfang eines Begriffes stehen in umgekehrtem Verhältnisse. Ent- leert man einen Begriff seines ganzen Inhaltes, so bleibt eine leere Hülse übrig. Wir würden also mit leeren Digitized by Google 1. Ueber die drei Wege des Denkens. Hülsen spielen, wollten wir von den allgemeinsten Begriffen ausgehen. Indem wir uns daran erinnern, dass alles Denken nur eine Verarbeitung des Wahr- genommenen ist und seinen Inhalt einzig und allein aus der Anschauung gewinnt, möchten wir nun den Gang von unten beginnen und uns unmittelbar an die Anschauung halten. Dabei haben wir dem Sinne nach wohl das Richtige getroffen, aber wir müssen uns doch darauf besinnen, dass eben Anschauen und Denken zweieriei sind, dass wir zu unserem Nachdenken Be- griffe brauchen, und dass diese erst durch Zergliede- rung der anschaulichen Mannigfaltigkeit gewonnen werden. Es bleibt also dabei, dass wir als Ausgangs- punkt einen Begriff brauchen, der nicht weiter zu zergliedern ist. Wir werden verfahren müssen wie der Chemiker, der die vorgefundenen Stoffe solange zer- legt, bis er auf unzeriegbare Stoffe trifft. Alles Er- klären besteht doch darin, dass wir den zu erklären- den Begriff anderen unterordnen, die uns als klar er- scheinen. Dieser Fortgang muss aber begreiflicherweise ein Ende haben und muss auf Begriffe führen, deren Inhalt nicht mehr erklärbar, sondern nur noch aufzeig- bar ist Als solcher Elementarbegriff bietet sich uns der des Wollens dar. Alle Erklärung führt auf das Wollen zurück, das Wollen aber erklären zu wollen, ist sinnlos. Das sieht Jeder ein, sobald wie er sich besinnt. Versucht er das Unmögliche, so findet er bald, dass in der Erklärung das zu Erklärende schon steckt, dass er mithin sich in leeren Worten ergangen hat Sagt er z. B., das Wollen entspringe dem Streben Digitized by Google 1. Ueber die drei Wege des Denkens. der Vorstellungen, so frage man ihn, was denn Streben sei, wenn nicht Wollen. Eine faule Ausflucht wäre es, wenn man sagen wollte, wir hätten es doch immer nur mit der Vorstellung des Wollens zu thun. Das versteht sich ja für unser Denken von selbst, wir würden aber nie zu der Vorstellung des Wollens kommen, wenn wir das wirkliche Wollen nicht in unserem Bewusst- sein fänden. Thatsächlich scheiden wir denkend unser Bewusstsein in zwei Theile: Wollen und Gegenstand. Kein Wollen ohne Gegenstand, kein Gegenstand ohne Wollen. Sprechen wir vom Wollen schlechtweg, so sehen wir eben vom Gegenstande ab oder betrachten ihn als gleichgültig. Dagegen ist reines Wollen ebenso Unsinn, wie ein Gegenstand an sich. Die Sprache bildet zu dem Zeitworte wollen das Hauptwort Wille und bezeichnet damit das Vermögen oder die Möglich- keit des Wollens. Es ist somit der Wille nur ein Ge- dankending, nicht etwas, was hinter dem Wollen stäke; woran zu erinnern, wohl nur für den im Denken Un- geübten nöthig ist In. tiefsinniger Weise nennt die lateinische Sprache das Zeitwort schlechtweg das Wort: Verbum. Die meisten Verba drücken ein bestimmtes Wollen aus, jedes von ihnen ist Wollen eines Gegenstandes. Von den activen Zeitwörtern versteht sich das von selbst, da actio nichts anderes ist als wirkliches Wollen. Aber auch die meisten passiven Zeitwörter beziehen sich auf ein Wollen und sind ohne diese Beziehung todt, worauf weiterhin mehrfach zurückzukommen ist Insbesondere drücken alle Verba, mit denen wir von unseren inneren Digitized by Google 1. Ueber die drei Wege des Denkens. Zuständen reden, ein Wollen aus. Dies klar zu machen, gehört eben zu der Aufgabe dieser Ausführungen. Dem Wollen steht das Nichtwollen gegenüber, und dies ist der zweite elementare Begriff. Bejahung und Verneinung sind nur da, weil Wollen und Nicht- wollen da sind, nicht umgekehrt. Ehe das Wollen im Denken sich spiegelt, muss es vorhanden sein. Auch das am tiefsten stehende Thier will und will nicht, ver- neinende Urtheile aber wird man bei ihm nicht suchen. Wir haben in unserem Inneren zuerst das Verbum gefunden. Bildlich gesprochen, wir finden uns als einen Strom, der hin und her fluthet Jede Welle ist* eine Bethätigung des Willens. Zu jedem Zeitworte aber ge- hört ein Haupt- oder ein Fürwort, sofern wie es bestimmt sein soll. Dies ist deshalb so, weil wir sagen: Ich will. Das ist der dritte elementare Begriff. Dass das Fürwort in der 1. Person da ist, lässt sich auf keine Weise er- klären. Man kann wohl sagen, das Ich sei die Ein- heit des Bewusstseins, da das „Ich will" alle geistigen Vorgänge begleiten könne. Man würde aber sehr ver- wegen sein, wenn man einen derartigen Ausspruch für eine Erklärung ausgäbe* Wenn es Einen geben könnte, der nichts von dem Ich wüsste, so würde er auch durch die Belehrung, das Ich sei die Form des Bewusstseins, „die Einheit in der Synthesis der Ge- danken", um nichts klüger werden. Ich will oder will nicht, das ist der Eckstein, der Digitized by Google 1. Ueber die drei Wege des Denkens. das Gebäude unseres Geistes und damit unserer Welt trägt. Die Sprache unterscheidet von dem Willen als Ge- fühle Lust und Unlust. Diese können als Bejahung und Verneinung des Willens verstanden werden, sind aber keineswegs mit dem Begriffe des Wollens ge- geben. Sie gehören mit zu den Elementen, man kann nur auf sie hinweisen. Sie begründen Alles, haben selbst keinen weiteren Grund Die Wirklichkeit muss man sich wohl so vorstellen: Der Wille findet Wider- stand, es folgt Lust oder Unlust und demnach Wollen oder Nichtwollen. Brauchen wir ein Bild, so würde die Einwirkung des fremden Willens der aufsteigende Schenkel des Winkels, die Lust der Scheitel und die Thätigkeit des eigenen Willens der absteigende Schen- kel sein. Der unmittelbare Beweggrund des Wollens ist immer Lust oder Unlust, und nur sofern wie diese sich an einen Gegenstand knüpfen, kann man diesen Motiv nennen. Wollen ohne Lust ist ein Unding. Wahrnehmen und Thun sind beide Zusammenstoss des eigenen mit dem fremden Wollen, Lust oder Unlust folgt dem ersten, geht dem anderen voraus. Im Wahrnehmen weicht unser Wille vor dem fremden zurück oder nimmt ihn in sich auf, im Thun drängt er den fremden Willen zurück. Nur nebenbei sei daran erinnert, dass es natüriich eine reine Lust sowenig giebt wie ein reines Wollen. Gegen- stand, Lust und Wollen sind nur begrifflich zu trennen, und jede wirkliche Lust ist immer eine bestimmte. Je CT Digitized by Google 10 1. Ueber die drei Wege des Denkens. nachdem die Lust mit einer Wahrnehmung, einer deut- lichen oder einer undeutlichen Vorstellung verknüpft ist, nimmt man wohl verschiedene Arten der Gefühle an. Mit Vorliebe gebraucht die Sprache das Wort Gefühl bei der an eine undeutliche Vorstellung ge- knüpften Lust. Dass das Wahrnehmen (percipere = erfassen) ein Wollen ist, sagt der sprachliche Ausdruck. Ich nehme wahr, d. h. ich handle, ich bethätige meinen Willen. Bethätigung des Willens, wirkliches Wollen ist nur möglich, wenn der Wille Widerstand findet Beim Wahrnehmen tritt meinem Willen ein Fremdes ent- gegen, das ihn einschränkt Am deutlichsten ist die Sache bei dem Ursinne, dem Gefühl, Auf die Frage, wie kommen wir zur Annahme einer Aussenwelt, heisst die Antwort: Das Ich stösst sich an das Nicht-Ich. Die Härte, die Schwere werden auch von unserem heutigen Bewusstsein als ein fremder Wille verstanden, mit dem der unsrige beim Fühlen zusammentrifft. Die Sprache lehnt zwar eine nähere Bestimmung des Frem- den ab, indem sie es Ding, d. h. Etwas, nennt, das natüriiche Bewusstsein muss aber das Ding als frem- den Willen auffassen, da ihm doch ausser dem Wollen nichts gegeben ist Dass es so ist, geht aus den Aus- drücken hervor, mit denen wir von den Eigenschaften der Dinge sprechen. Wir nennen sie Kräfte. Das Wort Kraft wird einmal von der Stärke des Wollens gebraucht, zum andern von einem Wollen mit be- Digitized by Google 11 1. Ueber die drei Wege des Denkens. -P stimmtem Inhalte. Kraft ohne Beziehung auf das Wol- len sind fünf Buchstaben, sonst nichts. Schwere, Härte, Wärme sind Kräfte des Dinges, aber ebenso auch Ge- schmack und Geruch, Schall, Licht und Farben. Die Apfelsine ist nicht nur weich und leicht, sondern auch süss, wohlriechend und gelb. Die eine Eigenschaft ist so gut eine Kraft, d. h. ein Ausdruck des Wollens, wie die andere. Die Apfelsine hat Riechkraft, Leuchtkraft u. s. w. Natürlich setzen wir das Ding nicht aus seinen Eigenschaften zusammen, sondern wir nehmen unwill- kürlich zu jedem fremden Wollen ein Subject (im sprach- lichen Sinne) an', da wir doch wissen, dass unser Wollen ein Subject hat. Ich und Es entsprechen ein- ander. Dass das Ding mehr sei als Subject eines fremden Wollens, liegt in keiner Weise in seinem Be- griffe. Jede Kraftäusserung wird auf ein Subject, das Ding bezogen. Welche Eigenschaften nun das Ding weiter habe, ergiebt die Erfahrung über den Zusammen- hang der Wahrnehmungen in Raum und Zeit. Wir nehmen die Dinge selbst wahr, und die wahr- genommenen Eigenschaften sind die der Dinge selbst Der natürliche Mensch hat mit dieser Auffassung durch- aus Recht. Die Eigenschaften des Dinges sind der Ausdruck seines Willens, die Art, in der es unseren Willen beschränkt Der natüriiche Mensch ist ebenso mit Recht davon überzeugt, dass auch dann, wenn er das Ding nicht wahrnimmt, es seine Eigenschaften be- hält, d. h. die Kraft, seinen Willen in der früheren Weise zu beschränken. Digitized by Google 12 1. Ueber die drei Wege des Denkens. Ist Wahrnehmung ein Wollen, bei dem der eigene Wille durch den fremden eingeschränkt wird, so schränkt beim Thun der eigene Wille den fremden ein. Das Wahrnehmen ist lust- oder unlustvoll, ihm folgt ein Wollen oder Nichtwollen als Thun (actio et reactio). Inhalt des Thuns kann zunächst nur das Wahr- genommene sein, das bejaht oder verneint wird. Nach geistiger Entwickelung können zwischen Wahrnehmen und Thun mehr oder weniger Vorstellungen eingeschal- tet sein, d. h. Willensakte, deren Inhalt ein Vorgestelltes ist. Am Anfange steht die einfache reactio, am Ende das zweckmässige Handeln, bei dem der vorgestellte Endzweck durch eine Reihe von Mitteln verwirklicht wird. Den inneren Zusammenhang, das Erfolgen des einen aus dem andern glauben wir unmittelbar wahr- zunehmen. Unser Bewusstsein enthält das, was wir durch Wahrnehmung ihm zuführen, und das, was auch ohne Wahrnehmung da ist Insofern als wir uns des einen wie des anderen bewusst sind, spricht man wohl von einem äusseren und von einem inneren Sinn, von mittelbarer und unmittelbarer Wahrnehmung. Wirken ist thätiges Wollen und hat zunächst gar keinen ande- ren Sinn. In der Wahrnehmung ist die Wirkung im- plicite gegeben. Am eigenen Thun muss sich der deutliche Begriff des Wirkens entwickelt haben, und erst aus der inneren Erfahrung ist er auf den fremden Willen, auf die Dinge unter einander übertragen worden. Das Ding, sofern wie es wirkt, wird Ursache genannt Thatsächlich bezieht sich der Begriff der Ursache, wie die Sprache darthut, auf das Ding selbst, soweit wie u — d Digitized by Google 13 1. Ueber die drei Wege des Denkens. es Subject eines Wollens ist Auf dem natürlichen Standpunkte, von dem aus die Dinge, wie sie für uns sind, in ihrer Beziehung zum Ich betrachtet werden, ist das Ding wirkend, ebenso wie das Ich wirkt Erst später, wenn von der Beziehung zum Ich abgesehen wird, und der Zusammenhang der Dinge unter ein- ander begrifflich erfasst ist, wird die Beziehung von Ursache und Wirkung auf die beobachteten Verände- rungen übertragen, und gemäss den Bedingungen des Zusammenhanges wird die vorausgehende Veränderung zur Ursache der folgenden. Da wir unser eigenes Thun als Wirkung des Ich auffassen, suchen wir bei jeder Veränderung, die ja ebenfalls als Thun erscheinen muss, nach einer Ursache. Auch die Thiere thun dies. Aber die Verknüpfung des Begriffes der Nothwendig- keit, der sich auf den Widerspruch bezieht, mit dem von Ursache und Wirkung ist keine ursprüngliche. Wirklich ist im Gegensatze zu möglich das nicht bloss Gedachte, sondern Wahrgenommene, weil es wirkt. Wirklichkeit als Zusammenfassung alles Wirk- lichen ist die Gesammtheit des Wirkenden, man könnte sagen die Willenswelt Vorstellung (repraesentatio) ist, wie das Wort besagt, eine Handlung. Beim Vorstellen ist der Gegen- stand des Wollens nicht wie beim Wahrnehmen und Thun das Wirkliche, sondern ein Stellvertreter (Reprä- sentant) desselben. Es ist gegen den Sinn der Sprache, und es kann nur Verwirrung stiften, wenn auch die Digitized by Google 14 1. Ueber die drei Wege des Denkens. Wahrnehmung als Vorstellung bezeichnet wird. Vor- gestellt wird nur das, was nicht da ist, und der natür- liche Mensch versteht unter dem Inhalte der Vorstellung nur ein Erinnerungs- oder Phantasiebild. Gewöhnlich wird der Inhalt schlechtweg Vorstellung genannt, und es wird dabei von der Thätigkeit des Vorstellens ab- gesehen. Dass wir vorstellen können, d. h. Bilder des Wahr- genommenen hervorrufen, zertheilen und zusammen- fassen können, das befreit uns von dem Zwange der Gegenwart Ohne dieses Vermögen gäbe es nur ein- fache actio und reactio. Durch das Vorstellen erlangen wir Willkür. So wenig aber wie die Wahrnehmung ohne den Willen gedacht werden kann, ebensowenig das unwillkürliche Vorstellen. Es wäre eine sinnlose Behauptung, zu sagen, die Vorstellungen verknüpften sich selbst Aus den Regeln der Vorstellungsver- knüpfung lernen wir das Verfahren des Willens kennen, d. h. wir erfahren, dass ihm die Verknüpfung der Vor- stellungen nur unter bestimmten Bedingungen Lust gewährt. Willkür zeigt sich beim Handeln und beim Denken, sie besteht darin, dass der Wille unter mehre- ren Vorstellungen eine wählt, weil an sie sich grössere Lust knüpft als an die anderen. Die willküriiche Vor- stellungsverknüpfung, das Denken, bethätigt sich an Erinnerungen oder an Begriffen. Wenigstens dürfte es dem Sprachgebrauche entsprechen, den Begriff des Denkens in diesem weiten Sinne zu fassen. Wir müssen doch annehmen, dass dem begrifflichen Den- ken ein Denken in Bildern oder allgemeiner ein sprach- Digitized by Google 15 1. Ueber die drei Wege des Denkens. loses Denken als Vorstufe vorausgehe, wie ja auch das künstlerische Denken z. Th. als solches zu be- zeichnen ist. Die Begriffsbildung und -Verknüpfung vollziehen wir bekanntlich nach Regeln, die durch die Sprache in uns lebendig werden, und die die Logik zusammenfasst. Nur im Bereiche des Denkens ist unser Wille sozusagen sein eigener Herr, denn die Wirklichkeit besteht in der Durchkreuzung verschiede- ner Willen. So, wie der Wille im Denken handelt, handelt er seiner eigensten Beschaffenheit gemäss, und aus den logischen Gesetzen muss diese am ehesten erkannt werden können. Da wir nun unwillkürlich an- nehmen, dass unser Wollen und das fremde Wollen einer Art sind, unser Wille einen Theil der Wirklich- keit darstellt, nehmen wir auch an, dass die logischen Gesetze nicht nur für unsern Willen, sondern für den Willen überhaupt, für die Wirklichkeit gelten. That- sächlich legen wir diese Voraussetzung all' unserm Handeln zu Grunde. Nichts spricht gegen sie, und die Erfahrung hat sie bisher ausnahmelos bestätigt. Die logischen Regeln lehren also, was dem Willen überhaupt in formeller Hinsicht Lust oder Unlust ge- währt, oder was er wollen kann. Sie führen bekannt- lich auf einige Grundsätze zurück. Zu ihnen gehört der Satz vom Widerspruche. Der Widerspruch ist sozusagen die Unlust an sich, die Noth, die der Wille unter allen Umständen abwenden muss. Nothwendig ist jedes Urtheil, dessen Gegensatz einen Widerspruch enthält, d. h. unmöglich ist (nicht gemocht werden kann). Dagegen ist ein Urtheil wirklich (actualis), so- Digitized by Google 16 1. Ueber die drei Wege des Denkens. fem wie seine Theile sich gleichen oder überein- stimmen, d. h. das principium identitatis besagt, was in formeller Hinsicht Lust gewährt. Das Wort Bewusstsein braucht die Sprache in zwei Bedeutungen. Einmal bezeichnet es den Zu- sammenhang der inneren Vorgänge. Ich bin mir einer Sache bewusst, d. h. ich kann mich ihrer erinnern. Wird der Zusammenhang zerrissen, die Möglichkeit der Erinnerung aufgehoben, so ist das Bewusstsein gestört. Dies meint z. B. der Gesetzgeber, wenn er von Handlungen in bewusstlosem Zustande spricht Zum anderen aber gebrauchen wir Bewusstsein als gleichbedeutend mit innerem Geschehen überhaupt Wenn wir z. B. von einem verwundeten Menschen sagen, er hat kein Bewusstsein mehr, so meinen wir, dass in ihm überhaupt keine geistigen Vorgänge mehr vorhanden sind. Will man nun von einem Unbewuss- ten sprechen, so hat dies gegenüber der ersten Be- deutung des Wortes Bewusstsein natüriich keine Schwie- rigkeit. Dagegen würde der Begriff unbewusster Geistes- thätigkeit gegenüber dem zweiten Gebrauche ein Widerspruch sein. Nichtsdestoweniger könnte die Be- obachtung des inneren Lebens uns dahin führen, gei- stige Vorgänge auch jenseits der Grenzen unseres Be- wusstseins anzunehmen, die ihrer Natur nach nicht in den Zusammenhang des letzteren eintreten können. Wir würden diese, sofern wie sie erschlossen werden, doch als Handlungen unseres Ich und trotz der Schranke, Digitized by Google 17 1. Ueber die drei Wege des Denkens. XI die sie von dem Zusammenhange unseres übrigen gei- stigen Lebens trennt, für nur relativ unbewusste hal- ten. Sollte aber die Betrachtung auf geistige Vorgänge führen, die überhaupt nicht in ein individuelles Be- wusstsein fallen können, so würden diese dann für uns in der That unbedingt unbewusste sein, würden uns aber zugleich nöthigen, ein das unsrige über- greifendes, oder einschliessendes Bewusstsein anzu- nehmen, da wir mit dem Begriffe eines an sich unbe- wussten geistigen Geschehens nach der Beschaffenheit unseres Denkvermögens nicht zurecht kommen können. Doch greifen diese Erwägungen vor. Wir sind von der Zergliederung des eigenen Bewusstseins ausge- gangen und dieser Weg führt nicht über seine Grenzen hinaus. Es hat für diese Betrachtungsweise keinen Sinn, von einem unbewussten Willen zu sprechen und etwa zu sagen, der Wille sei unbewusst, ehe er Wider- stand findet. Für die Beobachtung giebt es kein Wollen ohne Gegenstand, jeder wirkliche Wille ist ein bestimm- tes Wollen mit bestimmtem Gegenstande, denn der Gegenstand hat Eigenschaften, und das Wollen bejaht oder verneint ihn gemäss seiner eigenen Beschaffenheit Auf die Frage, was war, ehe das Bewusstsein ent- stand, kann vom Standpunkte der inneren Beobachtung keine Antwort gegeben werden, und ebensowenig kann sie durch Zergliederung der aus dieser Beobachtung abgesonderten Begriffe gelöst werden. Wir werden später auf sie zurückkommen müssen. Möbius, Werke VI. Digitized by Google 18 1. Ueber die drei Wege des Denkens. IL Der naturliche Mensch sieht die Dinge, wie sie für ihn sind. Sie treten seinem Wollen entgegen und werden selbst als Subjecte eines Wollens aufgefasst. Es ist begreiflich, dass diese Ansicht, die wir kurz als die erste Ansicht bezeichnen wollen, zunächst auch auf die Auffassung der Beziehungen der Dinge unter ein- ander übertragen wird. Die Dinge wirken aufeinander durch ihre Kräfte. Andererseits muss bei fortschrei- iender geistiger Entwickelung der ersten Ansicht eine zweite gegenübertreten, die von der Beziehung der Dinge auf unseren Willen absieht, d. h. bei dem Dinge -für uns von dem „für uns" abstrahirt und die Gegen- stände des Wollens (die Objecte) an sich (objectiv) be- irachtet. Nur diese zweite Ansicht kann uns eine zu- sammenhängende Naturerkenntniss liefern, aber es ist von vornherein ersichtlich, dass sie nur bedingungs- weise Giltigkeit haben kann. Eine reine Durchführung der zweiten Auffassung war mit grossen Schwierigkeiten verknüpft. Soweit wie unsere geschichtlichen Kenntnisse reichen, sehen wir die zweite, die naturwissenschaftliche Ansicht mit Digitized by Google 19 1. Ueber die drei Wege des Denkens. der ersten, der anthropopathischen im Kampfe liegen, wie noch heute im gemeinen Leben beide durcheinander laufen. Je weiter die Naturerkenntniss fortschreitet, um so freier wird ihre Auffassung von Beziehungen auf menschliches Wollen. Aber erst in der neuen Zeit ist diese Entwickeln ng zu einem gewissen Abschlüsse gelangt, und ist es möglich geworden, die naturwissen- schaftliche Auffassung soweit zu klären, dass nur noch einzelne Redewendungen an die erste Ansicht er- innern. Hier muss die geschichtliche Entwickelung als bekannt vorausgesetzt werden. Nur die wichtigsten Begriffe der heutigen Naturwissenschaft sollen eine kurze Erörterung finden. Die Naturwissenschaft hat die Aufgabe, den Zu- sammenhang des Wahrgenommenen zu erkennen, das direct nicht Wahrnehmbare aus ihm zu erschliessen und den Erfolg der in der Natur eintretenden Verände- rungen voraus zu bestimmen. Sie wird ihrer Aufgabe um so mehr nachkommen, je exacter sie verfährt, d. h. je mehr sie Messung und Rechnung anwendet. Mess- bar und zählbar ist aber nur das Quantitative, nicht das Qualitative. Die Naturwissenschaft hat daher das Bestreben, alle Qualität in Quantität umzuwandeln, wenn es sich auch nicht in allen Zweigen der Natur- wissenschaft in gleicher Stärke geltend macht. That- sächlich hat die Theorie das Ziel im Wesentlichen er- reicht, und die Auffassung der Natur hat damit eine 2* "D Digitized by Google 20 1. Ueber die drei Wege des Denkens. früher nicht geahnte Einfachheit und Klarheit erlangt. Schall, Licht, Wärme, magnetische und elektrische Er- scheinungen gelten als Formen der Bewegung. Die ganze Physik wird Mechanik. Das Gleiche gilt von der Chemie, denn die chemischen Erscheinungen er- klären sich durch Aenderungen im Bewegungzustande der entweder nur quantitativ verschiedenen, oder schlecht- hin einfachen kleinsten Theilchen. Bewegung der Ma- terie im Räume ist die Natur, und Erkenntniss der Ge- setze dieser Bewegung ist die Naturwissenschaft. Als man eingesehen hatte, dass die Dinge eine nur scheinbare Selbständigkeit haben, zertrennt und zusammengefügt werden können, betrachtete man die Stoffe, aus denen die Dinge zusammengesetzt sind, als das Wesentliche. Die verschiedenen Stoffe wurden als Arten eines Urstoffes angesehen: der Materie. Zu jedem Zeitworte gehört ein Hauptwort, zu jedem Ge- schehen ein Träger. Im gleichen Sinne wie das Ich Subject unserer Thätigkeit, das Ding Subject einer be- stimmten Veränderung ist, ist die Materie Subject aller wahrgenommenen, oder als wahrnehmbar gedachten Veränderungen. Sie ist das Substantivum alles wahr- nehmbaren Geschehens: die Substanz (deutsch etwa Unterstand). Da die Materie als Subject aller Ver- änderungen aufgefasst wird, kann sie selbst nicht ver- mehrt noch vermindert werden, sie beharrt. Sofern wie man das Wort Substanz gleichbedeutend mit Materie braucht, kann man auch der Substanz Beharrung zu- "D Digitized by Google 21 1, Ueber die drei Wege des Denkens. XI schreiben, sofern wie man das Wort anders braucht, kann man es nicht. In der Mechanik wird die Materie wohl auch als das Tastbare oder unter Umständen tastbar Werdende bestimmt. Mit der Tastbarkeit sind andere sinnliche Eigenschaften verknüpft, aus denen auf jene zurück- geschlossen werden kann, und der Zusammenhang des Wahrgenommenen lässt auch Tastbares oder dem Oleichgeltendes erschliessen, wohin keine Wahrneh- mung reicht. Insofern wie das Tastbare als Subject der Oleichgewichts- und Bewegungserscheinungen ge- fasst wird, kann man die Materie auch als das Beweg- liche im Räume bestimmen, wie es nach Kant vielfach geschieht Die wissenschaftliche Erfahrung hat bekanntlich dahin geführt, den stetigen Zusammenhang des Tast- baren zu leugnen, die Materie als aus getrennten Theil- chen, zwischen denen ein leerer Raum bestehe, zu- sammengesetzt zu denken.^) Die sogenannte physika- lische Atomistik schreibt diesen kleinsten Theilchen, die als weder durch physikalische, noch durch chemi- sche Mittel theilbar gedacht werden, Ausdehnung zu, die Atome sind ihr eben nur sehr kleine Körperchen. Weiter zu gehen, dazu hat vielleicht die Naturwissen- schaft kein Bedürfniss. Doch führt das einen Ab- schluss suchende Denken über die physikalischen Atome hinaus zu den einfachen Atomen, die selbst ohne Aus- *) Von neueren Auffassungen anderer Art kann hier ab- gesehen werden. Digitized by Google 22 1. Ueber die drei Wege des Denkens. dehnung sind, durch deren Zusammenstellung aber alles Ausgedehnte entsteht. Die Mathematik hat ge- zeigt, dass derartige Orenzbegriffe, die eine anschau- liche Vorstellung ausschliessen, brauchbar, ja unum- gänglich sind. So treten auch die unendlich kleinen Atome in den begrifflichen Zusammenhang der Physik ein und gestatten, manches schärfer zu fassen, als es ohne ihre Annahme möglich wäre. Die reine Mechanik, die von jeder Construction der Materie absehen kann, spricht nur von deren Ort im Räume, von ihrer Masse und von den sie bewegen- den Kräften. Die Masse oder Quantität der Materie ist die Fähigkeit, im bewegten oder ruhigen Zustande zu verharren; sie wird bestimmt durch die Kraft, die sie bewegt, oder ihre Bewegung ändert. Umgekehrt kann die Kraft gemessen werden durch die Masse der bewegten Materie, je nachdem die Grösse des Einen oder die des Anderen als bekannt angenommen wird. Die allgemeine Bedeutung der Atomistik beruht darauf, dass durch ihre Einführung die ganze Natur- wissenschaft theoretisch reine Mechanik wird. Atomi- stisch wird die Masse der Materie bestimmt als die Zahl der Atome. Kraft ist in der Mechanik das, vermöge dessen ein Bewegungszustand einen andern zu bewirken ver- mag. Ihre Wirkung allein ist bestimmbar, über ihr Wesen soll nichts ausgesagt werden. Im Begriffe der Kraft enthält die naturwissenschaftliche Auffassung noch Digitized by Google 23 1. Ueber die drei Wege des Denkens. einen Rest der ersten Ansicht. Ursprünglich bezieht sich ja Kraft nur auf das Wollen und ist eine Eigen- schaft des Dinges. Die Naturwissenschaft hat zwar das Wort Kraft bewahrt, aber sie braucht es in ein- wurfsfreier Weise, da sie der eben gegebenen Defini- tion gemäss verfährt Dagegen würde es eine unzu- lässige Vermengung der ersten Ansicht mit der zweiten sein, wollte man die Kraft eine Eigenschaft der Mate- rie nennen. Thatsächlich dient der Begriff der Kraft nur als Hilfsbegriff zur Darstellung der Gesetze des Oleichgewichts und der Bewegung. Nichts ist er- kennbar als das Gesetz, nach dem die vorausgesetzte Kraft wirkt, und im Gesetze allein existirt daher für uns die Kraft. Sind Ort, Masse und Bewegungzu- stand der materiellen Theile gegeben, so lehrt die Er- fahrung, welche Aenderung der Bewegungzustand er- fährt, und die Grösse dieser Aenderung ist das Maass der wirksamen Kraft. Die Kraft jeden Theiles des Systemes ist nur in der gesetzmässigen Beziehung seiner Bewegung zu der der anderen Theile ausgedrückt. Es giebt streng genommen soviele Kräfte, wie es Zu- sammenstellungen oder Bewegungsweisen der Materie giebt. Je nachdem die einzelnen Fälle gruppirt werden, unterscheidet man verschiedene Arten der Kraft. Wieder aber sind diese einzelnen Kräfte, z. B. die Gravitation- kraft, nur fassbar als bestimmte Gesetze der Bewegung. Soviel Gesetze, soviel Kräfte. Da nun diejKraft nicht an den materiellen Theilen hängt, vielmehr jedes Theil- chen, je nachdem es in diese oder jene Zusammen- stellung eintritt, den verschiedensten Kräften unteriiegen Digitized by Google 24 1. Ueber die drei Wege des Denkens. kann, ist es ersichtlich, dass man die Naturkräfte nicht als selbständige Wesen ansehen darf, deren jedem sein bestimmtes Gebiet unterworfen wäre. Soweit wie das Gesetz reicht, soweit reicht die Kraft. Die allgemeinsten Naturgesetze sind formeller Art. Das erste lautet: Unter gleichen Bedingungen treten jedes Mal gleiche Folgen ein, unter abgeänderten Be- dingungen abgeänderte Folgen. Das zweite: Jeder Be- wegungszustand bleibt unverändert, so lange seine Be- dingungen nicht abgeändert werden. Das dritte: Der vorhergehende Zustand erfährt eine Veränderung, die an Grösse der gleich kommt, welche er selbst bewirkt hat (Wirkung und Gegenwirkung sind gleich). Ob diese Gesetze der Causalität, der Trägheit und der Reaction auf einem Zwange unseres Denkens beruhen, oder nicht, das ist der Naturwissenschaft gleichgiltig. Sie sind, wie alle anderen Naturgesetze, Hypothesen und haben sich bisher durchgängig bewährt. Was nun thatsächlich geschieht, besagen die aus der Erfahrung abgeleiteten Gesetze. Gelänge es, ein allgemeinstes Erfahrungsgesetz zu finden, so würde auch an Stelle aller Kräfte eine einzige Kraft treten. Von vornherein schien die Unterordnung aller Ge- setze unter eines oder einige wenige eine unerfüllbare Forderung zu sein. Mochte auch im Gebiete der Me- chanik und einiger Theile der Physik die Gleichartig- keit der Kräfte einleuchtend sein, so war doch für grosse Gebiete der Natur die den Bedürfnissen der exacten Naturwissenschaft entgegenkommende Auf- fassung, die die Umwandlung alles Wahrgenommenen Digitized by Google 25 1. Ueber die drei Wege des Denkens. in Bewegungsvorgänge verlangt, zunächst nicht an- wendbar. Es konnten daher die chemischen, die magne- tischen und die elektrischen, besonders aber die im organischen Leben thätigen Kräfte als qualitates oc- cultae erscheinen. Auch schienen im Organischen Wir- kung und Gegenwirkung nicht mehr gleich zu sein. In der Theorie bot die Atomistik Einigung und Klar- heit, und in derselben Richtung wirkte sozusagen von unten her die Beobachtung, indem sie das mechanische Wärme-Aequivalent fand und zu dem Gesetze von der Erhaltung der Quantität der Kraft gelangte. Die Ver- suche, auf die dieses Gesetz sich stützt, sind der er- fahrungsmässige Beweis für die Gleichartigkeit der Naturkräfte. Sind alle reinen Bewegungskräfte gleich- werthig, so löst sich in der That die Naturwissenschaft in Mechanik auf. Alles Geschehen in der Natur ist Bewegung, und alle Kräfte der Natur bedeuten nichts als Gesetze der Bewegung. Auch die Vorgänge in den Organismen müssen sich als mechanische auffassen lassen, da doch, soweit wie die Erfahrung reicht, auch in den Organismen das Gesetz von der Erhaltung der Energie gilt. Immerhin ist nicht nur für die Physio- logie, sondern auch für andere Gebiete der Naturwissen- schaft die Zurückführung der wahrgenommenen Ver- änderungen auf Bewegungsvorgänge mehr erstrebt als erreicht. Man bedient sich der alten Ausdrucksweise noch, spricht nach wie vor von magnetischer, elektri- scher Kraft, unterstellt überhaupt die verschiedenen Naturerscheinungen nach wie vor verschiedenen Natur- kräften. Nun werden thatsächlich an dem Lebendigen Digitized by Google CT 26 1. Ueber die drei Wege des Denkens. Erscheinungen beobachtet, die ihm allein eigen sind. Die Grenze zwischen dem Belebten und dem Unbe- lebten ist durchaus scharf. Soweit aber wie materielle Veränderungen verschieden sind, sind die in ihnen zum Ausdruck kommenden Kräfte (Gesetze) verschieden. Es liegt daher kein Grund vor, den Ausdruck Lebenskraft zu verbieten. Die aus der Beobachtung des Lebendi- gen gewonnenen Gesetze könnten, soweit wie sie nicht mit den übrigen Naturgesetzen, die im Lebendigen ja auch giltig sind, gleichlauten, unter einem besonderen Namen ohne Bedenken vereinigt werden. Nur muss man sich gegenwärtig halten, dass die dem Lebendigen eigenthümlichen Erscheinungen, z. B. die des Wachs- thumes, im Grunde auch Bewegungsvorgänge sind, dass ihre Gesetze in der Theorie sich auf die der Mechanik zurückfuhren lassen. Nicht an einer grund- sätzlichen Verschiedenheit zwischen Lebendem und Un- belebtem, sondern an der Verwickeltheit der materiellen Zusammenfügungen, die in jenem Gebiete unendlich grösser ist als in diesem, liegt es, dass uns die Umsetzung der Veränderungen im Unorganischen in mechanische Vorgänge zum guten Theile gelungen ist, während sie für viele Erscheinungen des Lebendigen vielleicht immer ein frommer Wunsch bleiben wird. Als einzelne Arten der Lebenskraft sind die Assimila- tionkraft, die Reproduktionkraft u. a zu betrachten, Kräfte, von denen Manche reden, die das Wort Lebens- kraft ängstlich vermeiden. Digitized by Google 27 1. Ueber die drei Wege des Denkens. Das Causalgesetz ist vorhin in der von Fechner gegebenen Fassung angeführt worden. Es setzt vor- aus, dass auf einen bestimmten materiellen Zustand nur Ein andrer, nicht bald dieser, bald jener folgen kann. Sofern wie dies der Fall ist, sind eben beide Zustände gesetzlich verknüpft, und handelt es sich nicht um ein Folgen, sondern um ein Erfolgen. Erkennen aber können wir die gesetzliche Verknüpfung nur daran, dass eben jedesmal unter denselben Umständen der- selbe Erfolg, unter verschiedenen Umständen verschie- dene Erfolge eintreten. Nehmen wir (der Einfachheit halber) ein System einfacher Atome, so ist dessen Zu- stand bestimmt durch die Anordnung und den Be- wegungzustand der Theilchen. Beide sind die Be- dingungen des auf den ersten folgenden Zustandes. Die Bedingungen insgesammt sind die Ursache, der Erfolg ist die Wirkung. Welcher Zustand auf den An- fangzustand folgt, kann das Gesetz nicht sagen, son- dern dies lehrt die Erfahrung, oder würde ein als mög- lich gedachtes allgemeinstes Erfahrungsgesetz lehren, aber dass bei bestimmter Anordnung und bei bestimm- tem Bewegungzustande nur eine bestimmte Aenderung folgt, das setzt das Causalgesetz voraus. Die Hypothese, die von der Erfahrung um so mehr bestätigt wird, je vielseitiger und umfassender sich diese gestaltet, bringt also einen über alle bekannten Naturgesetze hinausreichenden Zusammenhang in die materielle Welt. Auf ihr beruhen die von der Natur- wissenschaft benutzten Schlussweisen der Induction und der Analogie. In Wirklichkeit kehren dieselben Digitized by Google 28 1. Ueber die drei Wege des Denkens. Umstände nie wieder, soweit wie das Ganze in Frage kommt, und auch für ein bestimmtes materielles System ändern sich, wenn nicht die innem, so doch die äusse- ren Umstände fortwährend. Es wird daher immer der Erfolg nur insoweit derselbe sein, wie die neueriichen Umstände den früheren gleichen. Aehnliche Umstände werden ähnliche Erfolge haben. Dies nennen wir Ana- logie. Um mit Bestimmtheit nach Analogie schliessen zu können, muss man wissen, inwieweit die Umstände sich gleichen, denn nur insoweit werden auch die Er- folge sich gleich, inwieweit aber jene verschieden sind, insoweit werden auch diese verschieden sein. Ist es nun möglich, die Bedingungen in verschiedener Weise abzuändern, eine Bedingung festzuhalten, die übrigen aber zu wechseln, so wird man aus dem, was im Er- folge gleich bleibt, auf die Bedeutung der festgehalte- nen Bedingung schliessen können. Dies ist dann ein Inductionschluss. Da die Variation der Bedingungen immer eine beschränkte ist, so ist auch die Sicherheit des Schlusses beschränkt. Man kann nun fragen, wie kommen wir zu der Voraussetzung, dass alle materiellen Veränderungen von der Causalität beherrscht würden. Eine logische For- derung ist sie nicht, denn ihr Gegentheil ist wider- spruchslos. Zwar kann man Ursache und Wirkung als Beziehungsbegriffe fassen und sagen, wenn eine Wirkung da ist, muss auch eine Ursache da sein. Aber darum handelt es sich nicht, sondern darum, ob wir die wahr- Digitized by Google 29 1. Ueber die drei Wege des Denkens. genommenen Veränderungen als Wirkungen ansehen sollen. Nun meint man, der Satz, jede materielle Ver- änderung ist Wirkung einer bestimmten Ursache, be- ruhe auf einer angeborenen Nöthigung unseres Denkens (sei eine Denkform, ein synthetisches Urtheil a priori, ein Urtheil von transcendentaler Wahrheit). Wäre es so, dann könnte man vielleicht meinen, diese Nöthigung beruhe auf Anpassung und Vererbung. Als sehr wahr- scheinlich erscheint eine solche Annahme nicht, da sie voraussetzt, dass jene früheren Geschlechter der Urzeit viel klüger gewesen seien, als die heutigen. Man sieht, dass selbst unter gelehrten Menschen nichts weniger als Klarheit über Ursache und Wirkung besteht. Der eine nennt die Materie, der andere die Kraft Ursache, scharf denkende Menschen haben von causa sui, von Gleichzeitigkeit der Ursache und Wirkung gesprochen u. s. w. Kinder oder ungebildete Menschen pflegen aber überhaupt nicht viel nach den Ursachen der ob- jectiven Veränderungen zu fragen. Viele erklären mit grosser Gemüthsruhe, dass gleiche Ursachen verschie- dene Wirkungen haben können und schrecken durch- aus nicht vor der Annahme eines ursachlosen Natur- ereignisses zurück. Man muss wohl zweieriei unterscheiden, einmal die Vorstellung einer durchgängigen Regelmässigkeit aller materiellen Veränderungen, zum andern die Frage, wie die Menschen darauf gekommen sind, anzunehmen, dass die Wirkung aus der Ursache hervorgehe, dass diese sozusagen jene hervortreibe. Der Sachverhalt kann nur der sein, dass, wie schon Digitized by Google er 30 1. Ueber die drei Wege des Denkens. früher angedeutet wurde, die Ergebnisse der inneren Erfahrung auf die äussere übertragen werden, dass wir, indem wir die materiellen Veränderungen als Ursache und Wirkung auffassen, die erste Ansicht in die zweite hineintragen. Nur ist es unrichtig, wenn man meint, wir gingen von der Thatsache, dass unser Wille unsere Glieder bewegt, aus. Denn erstens wird auf dem natüriichen Standpunkt der Leib nicht von dem Ich unterschieden, zum andern aber wäre der Ausgangs- punkt falsch gewählt, da zwischen dem Wollen und der Bewegung der Glieder als materiellem Vorgange gar kein ursächlicher Zusammenhang besteht. Wir gehen vielmehr von unserem Wirken auf die Aussen- welt aus. Wenn ich etwas zerschlage, so weiss ich was Wirkung ist. Wirkung ist eben nichts als Thun, d. h. Ueberwindung eines Widerstandes durch den Willen. Ursache ist das Subject des Wollens. Auf dem subjectiven Standpunkte kennen wir überhaupt nichts als das Wirken des Willens und können gar nichts anders, als in jedem Geschehen eine Wirkung sehen. Es ist daher ganz richtig, zu sagen, dass ohne den Begrifft) der Wirkung gar keine Erfahrung zu Stande kommt. Schopenhauer hat hier, wie oft, in der Sache Recht, irrt aber in der Formu- lirung. Wahrnehmung ist uns Wirkung der Dinge, aber nicht auf unsere Sinnesorgane, sondern auf unsern Willen. Geschehen ist Wirkung, dieser Satz kann sehr ^) Selbstverständlich handelt es sich dabei nur um ein Ana- logon des begrifflichen Denkens. Digitized by Google 31 1. Ueber die drei Wege des Denkens. wohl ein Urtheil a priori genannt werden, ist aber dann kein synthetisches, sondern ein Urtheil, das die Iden- tität zweier Begriffe ausdrückt. Da alles Geschehen von vornherein Wirkung ist, muss es auch eine Ursache haben. Somit suchen wir von vornherein in der äusse- ren Erfahrung einen inneriichen Zusammenhang über- haupt Aber dass jede Wirkung nur eine bestimmte Ursache haben kann, das konnte uns die innere Er- fahrung nicht lehren. Die Gesetzmässigkeit kann in der That einzig aus der äusseren Erfahrung erkannt werden. Theils auf experimentellem Wege kamen wir zu ihr, da willküriiche Veränderungen immer dieselben Folgen hatten, theils durch Beobachtung offenbar regel- mässiger Naturvorgänge. Somit hat der naturwissen- schaftliche Causalitätbegriff einzig seine sprachliche Bezeichnung aus der inneren Erfahrung, seinen Inhalt aber: die Gesetzmässigkeit, aus der äusseren. Es wiederholt sich also bei dem Begriffe der Wirkung derselbe Vorgang, der sich mit der Kraft vollzogen hat. Beide sind Hilfsbegriffe aus der inneren Erfah- rung, mit denen wir uns die objective Erfahrung vor- läufig verständlich zu machen suchen. Die erste Ansicht geht von den Elementen des Bewusstseins aus und findet, dass der Inhalt des Be- wusstseins Wollen und Gegenstand ist. Die zweite macht einen Schnitt und betrachtet die Gegenstände als solche. Das Ergebniss der ersten ist, dass die Dinge mit ihren Kräften auf uns wirken und wir auf Digitized by Google er 32 1. Ueber die drei Wege des Denkens. die Dinge, hier das Ich, da die leuchtende, tönende Welt im Räume. Das Ergebniss der zweiten Ansicht ist, dass es nichts giebt, als ein System von gesetz- mässig bewegten Atomen. Die erste Ansicht hat nicht nur jeder rohe Mensch, sondern auch jedes Thier. Die zweite ist das Ergebniss alles bisherigen natur- wissenschaftlichen Beobachtens und Denkens. Sie be- ruht auf der Verarbeitung unzähliger gewissenhafter Beobachtungen durch richtiges Denken. Ihre Ergeb- nisse zeigen sich tagtäglich fruchtbar, indem sie nicht nur sich neuer Erfahrung gegenüber bewähren, sondern auch es uns ermöglichen, in zweckmässiger Weise in den Naturlauf einzugreifen. Bei dieser Lage der Sache ist es wohl begreiflich, wenn wir der zweiten Ansicht gegenüber leicht vergessen, dass sie doch nur auf einer Abstraction beruht, und die bedingte Wahrheit der Naturwissenschaft für eine unbedingte halten. Die erste Ansicht scheint mangelhaft zu sein, insofern wie sie das im Inneren Gefundene ohne Weiteres auf das Fremde überträgt, das Ich sozusagen die Welt nach seinem Bilde schafft. Sie ist beschränkt, weil sie vom gegebenen Ausgangspunkte aus sich nur in einer Rich- tung ausdehnen kann. Aber ihr Vortheil ist eben der feste Punkt, auf dem sie steht. Die zweite Ansicht dagegen, wenn sie vergisst, dass sie schliesslich von demselben Punkte ausgegangen ist, vertiert den Stütz- punkt und schwebt sozusagen in der Luft. Die Natur- wissenschaft zeigt, wie das Materielle im Zusammen- hange gedacht werden muss. Aber die Materie ist die Oesammtheit des sinnlich Wahrnehmbaren, d. h. im Digitized by Google 33 1. Ueber die drei Wege des Denkens. Grunde doch die Dinge, wie sie für uns, nicht wie sie für sich sind. Dadurch, dass die zweite Ansicht von dem „für uns" absieht, kann sie es doch nicht aus der Welt Schaf- fen, und am Ende angekommen, muss sie sich erinnern, dass das Ich, das sie vergessen hatte, noch da ist Die erste Ansicht zieht sozusagen eine Linie vom Ich zur Welt, die zweite erblickt die Welt als einen zu dieser Linie senkrechten Strom. Wie gelangen wir nun von diesem Strome, dem causalen Zusammenhange des materiellen Geschehens, wieder zum Ich? Solange wie an der Abstraction der zweiten Ansicht festgehal- ten wird, führt keine Brücke hinüber. Auf materielle Bewegungen folgen gesetzmässig andere materielle Be- wegungen, dazwischen ein Wollen zu suchen, ist sinn- los. Die landläufige Misch-Ansicht kehrt sich freilich daran nicht, sondern nimmt unbesehen an, dass unter geeigneten Umständen auf materielle Bewegungen ein Wollen in causaler Verknüpfung folge und umgekehrt. Dass diese transcendente (oder transeunte) Causalität nicht eine Brücke, sondern ein Sprung, unbildlich ge- sprochen eine sinnlose Wortverknüpfung, bei der sich gar nichts denken lässt, ist, das liegt auf der Hand. Wenn jemand Töne mit Farben mischen wollte, so würde man ihn für einen Thoren halten, er wäre aber ein Weiser gegen den, der materielle Bewegungen ein Wollen hervorbringen Hesse, oder die Seele durch Gehimveränderungen „afficirt" werden Hesse. Es ist wohl sicher, dass eine Thorheit dadurch, dass sie oft begangen wird, nicht kleiner wird. Unter den Dingen, die die materielle Welt zusammensetzen, treffen wir Möbius, Werke VI. Digitized by Google 34 1. Ueber die drei Wege des Denkens. auch den Menschen. Zwar ist er ein sehr zusam- mengesetztes Object, aber schliesslich besteht er doch auch aus den Stoffen, aus denen die übrigen Dinge gebildet sind, und die materiellen Bewegungen, die in ihm vorgehen, mögen wohl besonders verwickelt sein, müssen sich aber immerhin auf Schwingungen der Atome zurückführen lassen, sogut wie alle anderen. Wir fragen, was vorgeht, wenn etwa einem Menschen ein Apfel vorgehalten wird, und seine Hand danach greift. Die von dem Apfel zurückgeworfenen Licht- strahlen gelangen zum Auge des Menschen, dringen durch die Hornhaut, werden durch die Linse conver- gent, und es entsteht auf der Netzhaut ein verkleiner- tes, umgekehrtes Bild des Apfels. Die Aetherschwin- gungen bewirken in der Netzhaut chemische Verände- rungen, und an diese schliesst sich der im Sehnerven zum Gehirn aufsteigende Erregungsvorgang an. Mag man nun im Nerven chemische, oder elektrische, oder sonstweiche Veränderungen annehmen, auf jeden Fall kann man sie durch moleculare Schwingungen aus- gedrückt finden. Diese Schwingungen machen ihren Weg durch das Gehirn längs vorgezeichneter Bahnen, wobei es ganz gleichgiltig ist, ob die Ausläufer der Ganglienzellen mit einander verwachsen sind, oder sich nur an einander anlegen. Die Schwingungen gelangen durch die Vierhügel zu bestimmten Ganglienzellen des Hinterhauptlappens. Vielleicht verbreiten sie sich auf benachbarte Zellen, sicher schreitet der Erregungs- vorgang durch bestimmte Leitungsfasem des Gehirnes nach dem mittleren Theile der aufsteigenden Stim- Digitized by Google 35 1. Ueber die drei Wege des Denkens. Windung fort, wo sich wieder besondere Ganglien- zellen finden. Die letzteren stehen in Verbindung mit den Bewegungsnerven des Armes durch die sogenannte Pyramidenbahn. Ist die Erregung bis zu den Enden der Bewegungsnerven des Armes gelangt, so ziehen sich bestimmte Muskeln des Armes und der Hand zu- sammen, die Hand wird gehoben und ergreift den Apfel. Innerhalb dieser langen Reihe von Verände- rungen ist jede die Wirkung der vorausgehenden. Die Kette ist geschlossen, nirgends ist ein Sprung. Eine kindliche Auffassung meinte, das Bildchen des Apfels auf der Netzhaut werde vom Sehnerven zum Gehirn geleitet, und da schaue die Seele es an, die dann so- zusagen wie ein Männchen im Gehirn sässe. Ist es aber etwa vernünftiger zu sagen, die Seele werde durch die Erregung der Rindenzellen „afficirt"? Nein, es springt nichts über, und es ist gegen unser intellectuelles Ge- wissen, die transcendente Causalität zuzulassen. Wüsste der Naturkundige nicht aus ganz anderer Quelle, dass während eines bestimmten Theiles der materiellen Ver- änderungen, wahrscheinlich nur, während der Erregungs- vorgang die Hirnrinde durchläuft, der Mensch den Apfel sieht und ihn ergreifen will, seine Wissenschaft würde es ihn nie und nimmer lehren. Damit wir der transcendenten Causalität entgehen können, ist offenbar eine dritte Ansicht nöthig, die zwar die durch die zweite gewonnene Erkenntniss festhält, deren Einseitigkeit jedoch aufhebt und die erste Ansicht in geläuterter Form zurückgewinnen lässt. Digitized by Google 36 1. Ueber die drei Wege des Denkens. III. Die heutige Naturwissenschaft hat (z. Th.) die Un- möglichkeit der transcendenten Causalität eingesehen und hat sich Fechners Gedanken soweit angeeignet, dass sie an die Stelle jener den „psychophysischen Parallelismus" gesetzt hat. Sie nimmt an, dass die materiellen Vorgänge, die unter sich durch die Causa- lität verknüpft sind, zu einem geringen Theile von psychischen Vorgängen begleitet werden. Nur bei ganz bestimmten Eiweissarten kommen solche seltsame Begleiterscheinungen vor. Auch da, wo sich diese Eiweissarten vorfinden, kommen gewöhnlich nur kleine Theile von ihnen in Frage, die gewisse noch ganz unbekannte Eigenschaften haben müssen. Im mensch- lichen Nervensystem z. B. kommen, obwohl die ver- schiedenen Fasern und Zellen einander ähnlich sehen, nur ganz wenigen Fasern und Zellen psychische Pa- rallelvorgänge zu. Es ergiebt sich also eine neue Form der Gesetzlichkeit, in der nicht zeitlich sich folgende, sondern gleichzeitige Vorgänge verknüpft sind. Im grossen Reiche der materiellen Veränderungen giebt es einige wenige, denen gesetzlich sogenannte geistige Digitized by Google 37 1. Ueber die drei Wege des Denkens. Veränderungen zugeordnet sind. Führt man die An- sicht an Beispielen durch, so ergeben sich wunderliche Folgerungen. Wenn z. B. zwei Menschen mit einander sprechen, so verhält sich die Sache eigentlich so. Im Zusammenhange mit dem Naturlaufe überhaupt, wenn man diesen Zusammenhang auch nicht immer verfolgen kann, entwickelt sich ein Erregungsvorgang in einem menschlichen Gehirn, er bewirkt auf bekannte Weise gewisse Muskelzusammenziehungen in dem zugehörigen Menschen. Diese bewirken eigenthümliche Luftschwin- gungen, die sich in der Umgebung des sprechenden Menschen verbreiten und u. A. auch das Trommelfell eines anderen Menschen in Schwingung versetzen. Daran schliessen sich dann Veränderungen im Laby- rinth, Hömerven und Schläfenlappen des Gehirns des zweiten Menschen. Dieser ganze Verlauf ist causal bestimmt, selbstverständlich kann von irgend welchen Zwecken dabei nicht die Rede sein. Nun hat die Natur es so eingerichtet, dass zwei Abschnitte des causalen Verlaufes, nämlich die Erregungsvorgänge in den zwei Gehirnen, von gleichzeitigen psychischen Vorgängen begleitet werden. Diese haben natüriich nicht den mindesten Zusammenhang unter einander, können ihn gar nicht haben. Nichtsdestoweniger stellt sich der erste Gehimvorgang von innen gesehen so dar, als ob die Ursache des Sprechens ein Wille, dem zweiten Menschen etwas mitzutheilen, gewesen wäre, und die Spiegelung des zweiten Gehirnes besteht wieder in der Täuschung, dass das Vernehmen eine Wirkung jenes ersten Willens sei, und dass von diesem der Inhalt des Vernommenen n Digitized by Google 38 1. Ueber die drei Wege des Denkens. abhänge. Wozu die Natur diesen ganzen Hokuspokus eingerichtet hat, das ist durchaus nicht einzusehen, denn er ist vollständig überflüssig. Die materiellen Vorgänge würden genau so ablaufen, wie sie wirklich ablaufen, wenn die psychischen Begleiterscheinungen nicht da wären, denn beeinflussen können diese ihrer Beschaffenheit nach jene grundsätzlich nicht. Freilich ist die Frage des Wozu so sinnlos wie die ganze Ein- richtung überhaupt. Man muss es eben nehmen, wie es kommt Nun, Dem, der sich mit einer solchen Auffassung zufrieden giebt, dem ist überhaupt nicht mehr zu helfen. Scheinbar sind Viele in dieser Lage, aber es liegt wohl nur daran, dass überhaupt nur Wenige geneigt sind, über die Folgerungen aus den landläufigen Ansichten nachzudenken. Das Mittel, und zwar das einzige Mittel, wider- sinnigen Folgerungen auszuweichen, besteht darin, den psychophysischen Parallelismus zu einem allgemeinen zu machen. Alle physischen Veränderungen sind ge- setzlich mit gleichzeitigen psychischen verknüpft. Nur wenn sich nicht nur an die Veränderungen in der Gehirnrinde, sondern auch an die im übrigen Leibe und an die in den unorganischen Stoffen zwischen beiden Leibern psychische Veränderungen knüpfen, kann das Sprechen des Einen mit dem Hören des Anderen einen wirklichen Zusammenhang haben. Was aber von diesem Beispiele gilt, das gilt von der ganzen Welt Unter der Voraussetzung des allgemeinen Par- allelismus entspricht dem durchgehenden Causalzu- Digitized by Google 39 1. Ueber die drei Wege des Denkens. sammenhange in der materiellen Welt ein durchgehender Willenszusammenhang in der geistigen Welt Was von aussen gesehen eine Reihe gesetzmässiger materieller Ver- änderungen ist, erscheint von innen als eine Kette von Unlust und Lust motivirter Willensentscheidungen. Das Geschehen als materielles ist ausschliesslich ein cau- sales, dasselbe als geistiges ist ein zweckverfolgendes. Wie der Parallelismus im Einzelnen zu denken sei, das kann voriäufig ganz dahingestellt bleiben. Dar^ auf kommt es an, dass erj nurj als allgemeiner, oder gar nicht denkbar ist. Entweder man landet bei dem oben erwähnten Unsinne, oder man erkennt an, dass der Parallelismus nicht auf einzelne Eiweissarten be- schränkt, sondern durchgängig ist. Als Drittes wäre nur möglich, dass man in Halbheiten stecken bliebe. Es geht nicht an, dass man sich hinter dem Worte Naturwissenschaft versteckt und sagt, ja die Natur* Wissenschaft muss bei den Eiweissarten stehen bleiben; denn es giebt keine Mauern, die das naturwissenschaft- liche Denken von dem Denken überhaupt abtrennen, und jeder Vertreter der Naturwissenschaft ist ein Mensch. Den Parallelismus könnte man sich nun nach dem Bilde zweier gleichgehenden Uhren vorstellen. Diese Auffassung hat von vornherein etwas höchst Unbe- friedigendes und besitzt jetzt wohl kaum Anhänger, Ein direkter Beweis für oder gegen ist nicht zu führen. Bedenklich macht jedenfalls die hypothetische Natur der zweiten Ansicht. Sollte sich keine befriedigendere Digitized by Google 40 1. Ueber die drei Wege des Denkens. Auffassung finden, so bliebe wohl die Uhren-Ansicht als letzte Zuflucht. Sodann kann man den Parallelismus so auffassen, dass man eine „Substanz" voraussetzt, die zwei Er- scheinungsweisen hätte, Materie und Bewusstsein. Was soll aber eine Substanz helfen, die nur ein Lücken- büsser ist? Mit dem Worte Erscheinung muss man höchst vorsichtig sein, denn zu einer Erscheinung sucht man ein Erscheinendes. Wird nun die Wirk- lichkeit Erscheinung genannt, so muss dahinter ein Wesen stecken. Was das Wesen ist, kann kein Mensch sagen; nur dass es hinter der Wirklichkeit steckt, [sie trägt, ihre Unterlage ist, dass auf ihm alles beruht, und Aehnliches wird uns mitgeteilt. Was ist nun wesenloser als dieses Wesen? Die wahre Erklärung des Parallelismus kann nur die sein, dass das, was für uns Bewusstsein d. h. Wollen ist, für Andere Bewegung der Materie ist, und umge- kehrt, dass die Bewegung der Materie an und für sich Bewusstsein ist. Beide Uhren sind nur eine, das ist das Einfachste: Simplex sigillum veri. Die ganze Welt ist uns gegeben, aber nur für uns als andere, d. h. als Be- wegung der Materie. Im Ich allein sehen wir in das Herz der Welt. So begreift sich, dass die zweite An- sicht uns reiche Belehrung schafft; von der ersten An- sicht aber, als der in die Tiefe, nicht in die Breite gehenden, strahlt das Licht aus, das uns die Ergeb- nisse der zweiten erst beleuchtet. Indem beide Ansichten sich zur dritten ergänzen, erkennen wir das wirkliche Wesen der Welt. Digitized by Google 41 1. Ueber die drei Wege des Denkens. Es ist das soeben erreichte Ergebniss durch die reductio ad absurdum der abweichenden Auffassungen gesichert. Aber es trägt zur Beruhigung bei, wenn dasselbe Ziel auch noch auf einem anderen Wege er- reicht werden kann. Dass das Wahrgenommene nach Form und Stoff unser Bewusstseinsinhalt ist, bedarf keines Beweises. Für den Stoff der Empfindung giebt es heutzutage Jeder bereitwillig zu, ja die Schule lehrt es. Dass auch die Formen der Anschauung subjectiv sind, versteht sich ganz von selbst, und Jeder sieht es ein, ohne dass er der wunderlichen Beweisführung Kants be- dürfte. Die Zeitlichkeit ist die Form jeden Bewusst- sein-Inhaltes, die Räumlichkeit ist die Form des Wahr- genommenen. Die Trennung von Form und Stoff ist eine begriffliche Operation. In Wirklichkeit giebt es keinen Stoff ohne Form, und es ist eine irreführende Redeweise, wenn man sagt, dass uns zunächst nur der Stoff der Empfindung gegeben sei, der dann in die Form der Räumlichkeit gebracht werde. Aus der Ab- straction des Empfindungstoffes die Räumlichkeit ab- leiten zu wollen, ist geradezu sinnlos. Man mag die als nur intensiv gedachte Empfindung betrachten, wie man will, es ist in ihr nichts Räumliches zu entdecken. Ist aber mit der einzelnen qualitativen Empfindung die räumliche Anschauung nicht gegeben, so kann diese auch nicht aus einer Verbindung mehrerer Empfindun- gen hervorgehen, was ein Taschenspieler-Kunststück wäre. Die Empfindung wird nicht durch irgendwelche Operation zur Anschauung, sondern Stoff und Form Digitized by Google ET 42 1. Ueber die drei Wege des Denkens. sind nie getrennt, und jede Empfindung ist von vorn- herein Anschauung. Die Räumlichkeit ist in der Wahr- nehmung gerade so ursprünglich wie die Farbe, die Härte oder sonst etwas. Die nur logisch vom Stoffe abtrennbare Form von der Thätigkeit des Wahmehmens unabhängig zu machen, während man den Stoff als Reactionsart des Wahrnehmenden betrachtet, das ist ein Verfahren, das jeder Begründung ermangelt. Wir liefern beides, Empfindungsqualität und Anschau- ungsform, zugleich aus dgenen Mitteln. Dass wir in räumlicher Form anschauen, dass wir Licht und Farben sehen, hart und weich fühlen u. s. w., das hängt von der Einrichtung unseres Geistes ab. Dag^en welche Form, welche Farben u. s. w. wir wahrnehmen, das hängt von den Dingen ab. Jeder Veränderung unserer Wahrnehmungen entspricht eine Veränderung der Aussenwelt (einschliesslich unseres Leibes). Wir er- kennen die Gesetze dieser Veränderungen, und darin besteht unser Wissen von der Aussenwelt Die Wahr- nehmungen sind auf diesem Standpunkte sozusagen Signale des Wirklichen. Wie die Dinge an sich sein mögen, ist uns ganz unbekannt, wir haben es nur mit ihren Wirkungen auf unser Wahrnehmungsvermögen zu thun. Von diesem Standpunkte aus kann man zwei W^e einschlagen. Bei genauerer Ueberiegung fällt uns ein, dass doch auch die Zeitlichkeit und die logischen R^eln Formen unseres Geistes sind, dass wir femer die Wirkung nur aus unserem Bewusstsein kennen. Es kann nun Jemand sagen: Es ist ganz und gar un- Digitized by Google 43 1. Ueber die drei Wege des Denkens. zulässig, die Formen unseres Geistes auf das, was ausserhalb dessen (praeter) sein mag, zu übertragen. Sofern wie etwas erkannt werden kann, muss es In- halt unseres Bewusstseins sein, also kommen wir nie über unser Bewusstsein hinaus, und von einem Er- kennen dessen, was hinter der Vorstellung steckt, kann gar keine Rede sein. Wenn wir das Wahrgenommene logisch verarbeiten, so haben wir es mit etwas rein Subjectivem zu thun. Wenn wir unsere Empfindungen als Wirkung einer Ursache auffassen, so wenden wir eine Form des Vorstellens (die Causalität) auf Vor- gestelltes an. Kurz, es führt vom Denken zum Sein keine Brücke. Unser eigenes Wesen erscheint uns als eine Reihe von Willensacten des Ich. Nun ist aber die Zeit nur eine Form der Anschauung, ebenso ist die Unterscheidung vom Substantivum und Verbum nur eine Form unseres Denkens. Folglich ist auch gar keine Erkenntniss unseres Inneren möglich. Diese Lehr-Meinung muss in der That der idealistische Phi- losoph vertreten, wenn wir unter Idealismus die Lehre verstehen, die verbietet, die Formen unseres Anschauens und Denkens auf das Ding an sich anzuwenden, weil sie die Formen unseres Anschauens und Denkens sind. Es ist zweifellos, dass der folgerichtige Idealismus die Möglichkeit jedweden Erkennens leugnen muss. Der dogmatische Idealist muss nicht nur das Vorhandensein einer selbständigen, von ihm unabhängigen Welt und damit auch das seiner Mitmenschen verneinen, sondern auch die von seinem Vorstellen unabhängige Existenz seines Ich. Für ihn bleibt nichts übrig, als eine zu- Digitized by Google 44 1. Ueber die drei Wege des Denkens. sammenhanglose Folge von Vorstellungen, die sozu- sagen in der Luft schwebt. Der skeptische Idealist muss den Standpunkt des dogmatischen Idealisten für den einzig sicheren halten und muss sich hüten, anders als bedingungsweise über ihn hinauszugehen. Eine Lehre, die zu so widersinnigen Folgerungen führt und das Dasein zu einem tollen Traume macht, kann natürlich nur auf dem Katheder festgehalten werden. Jeder Idealist ist, sobald er vom Lehrstuhle heruntergestiegen ist, thatsächlich Realist, und er macht sich selbst etwas weis. Der erste Weg führt also in den Sumpf, es bleibt nur der zweite übrig. Der Idealist legt seiner Beweis- führung stillschweigend die Voraussetzung zu Grunde, dass die Formen unseres Geistes nur für ihn Geltung haben, nicht auch für die Aussenwelt, und er begeht damit eine petitio principii. Statt anzunehmen, dass wir ein Theil des Ganzen sind, und dass der Theil unter denselben Gesetzen steht wie das Ganze, meint der Idealist, der Theil sei grundverschieden von, ohne alle Aehnlichkeit mit dem Ganzen. Glaubenssache bleibt die Uebereinstimmung unseres Wesens mit der Welt freilich. Thatsächlich glauben wir alle daran mit voll- ständiger Gewissheit, und theoretisch müssen wir daran glauben, weil die gegentheilige Annahme zu Wider- sinn führt, und weil allein dieser Glaube uns ein Führer im Leben ist, unter dessen Leitung wir zu geistig und gemüthlich befriedigenden Ergebnissen gelangen. Immer- hin ist es gut, zu wissen, dass der Glaube die Grund- lage alles Erkennens ist. Digitized by Google 45 1. Ueber die drei Wege des Denkens. Nehmen wir einmal an, dass das Draussen gleicher Art mit dem Drinnen ist, so hat es nichts Verwunder- liches, dass die logischen Regeln nicht nur in unserem Geiste, sondern durch die ganze Welt gelten, dass die Zeit nicht nur die Form unseres Wollens, sondern die des Wollens überhaupt, d. h. eben der Welt ist, dass der Raum nicht nur die Form ist, in der wir die Dinge wahrnehmen, sondern die, in der überhaupt das Eine für das Andere da ist, dass die Welt auf uns wirkt, und wir auf die Welt wirken. Auf diesem Standpunkte giebt es keine „transcendente Causalität", sondern Glei- ches wirkt auf Gleiches, und das, was wir in der Natur Causalität nennen, ist nur das von aussen gesehene Wollen. Der natürliche Mensch erfasst sozusagen instinctiv die dritte Ansicht, da für ihn die ganze Natur belebt ist. Diese kindliche Auffassung wird durch die Be- obachtung gestört, dass die Bewegung der später als unbelebt erkannten Dinge nur mitgetheilt ist, dass diese sich zertheilen und umformen lassen, ohne dass ihre wesentliche Beschaffenheit verändert würde. Dagegen scheiden sich aus der Natur die belebten Wesen aus, insofern als die Ursache ihrer Bewegungen nur in ihnen selbst zu liegen scheint, und ein stärkerer Ein- griff ihre Natur zerstört. Letzteres lässt sich nur an den Organismen der Erde beobachten. Die Himmels- körper, die sich von selbst bewegen, werden zunächst auch für belebt gehalten. Die Beobachtung des Sterbens Digitized by Google 46 1. Ueber die drei Wege des Denkens. führt zu der Annahme, dass dem leblos gewordenen Körper etwas verloren gegangen sein muss. Dies ist die Seele. Beseelt und belebt werden daher gleich- bedeutende Ausdrücke. Je nachdem der Seele später besondere Eigenschaften beigelegt werden, kommt es wohl auch zu der beschränkten Auffassung, dass nur der Mensch eine Seele habe. Nachdem wir durch die zweite Ansicht hindurch- gegangen sind, müssen wir in gewissem Sinne den Weg rückwärts gehen, den das naive Bewusstsein zurückgelegt hat, indem es der Beseelung immer engere Grenzen zog. Auch Der, der die zweite Ansicht für die unbe- dingt wahre hält, glaubt heutzutage an die Seele nicht nur der anderen Menschen, sondern auch der Thiere. Das heisst, er schliesst aus der äusseren Aehnlichkeit der Form und des Verhaltens, dass den Menschen und den Thieren ein Bewusstsein ebenso wie ihm zukomme. Insofern wie das Wachsthum zur selbständigen Be- wegung gerechnet wird, treffen die [Merkmale des Be- seeltseins auch auf die Pflanzen. Mit der Annahme eines Pflanzen-Bewusstseins hapert es freilich, indessen werden doch die Meisten geneigt sein, den Pflanzen wenigstens das Analogon eines Bewusstseins zuzu- gestehen. Wenn der Mensch wissenschaftlich gebildet ist, weiss er, dass die organisirten Körper grössten- theils aus selbständigen Organismen zusammengesetzt sind, den Zellen. Diese sind durch die Form abge- gegrenzt, haben eigene Bewegung (bez. Wachsthum) und können sterben. Es kommen daher auch ihnen Digitized by Google 47 1, Ueber die drei Wege des Denkens. Seelen zu, und thatsächlich ist der heutigen Auffassung die Annahme eines Zellen-Bewusstseins nichts Uner- hörtes. Wenigstens wäre nicht einzusehen, warum das, was der freilebenden Zelle Jeder zugesteht, der in einen Zellenverband eingegangenen verweigert werden sollte. Dagegen sträuben sich die Geister, sobald wie von einer Seele der Erde und der Himmelskörper ge- sprochen wird. In Wirklichkeit treffen aber die Merk- male der Beseelung die Erde so gut wie ein Thier. Wie dieses besteht sie neben sogenannter Kittmasse aus relativ selbständigen Organismen, hat selbständige Bewegung im Ganzen, ist durch ihre Form abgegrenzt und hat nach der allgemeinen Annahme einen Lebens- lauf, der mit dem Tode endigen wird. Gewiss, man kann über die Erd-Seele verschiedener Meinung sein, aber den Glauben an sie phantastisch zu nennen, das ist eines Denkenden unwürdig. Die, die sich nicht scheuen, Fechner der Phantasterei zu zeihen, mögen doch nachsehen, was in ihrem eigenen Lehrgebäude phantastisch ist. Wenn gar Jemand so wenig von der Sache verstanden hat, dass er neben den vorhan- denen Gehirnen noch ein besonderes Gehirn für die Erde fordert, so sollte er lieber überhaupt nicht hinein- reden. Den Einen ist die Erdseele (oder das Be- wusstsein der Himmelskörper überhaupt) zu gross, den Andern ist sie zu klein. Jene könnten sich wohl mit Atonj-Seelen befreunden, wollen aber davon nichts wissen, dass das ganze irdische Leben einen für sich bestehenden Zusammenhang hat. Diese springen kühn von der Menschenseele auf die Weltseele über. Digitized by Google 48 1, Ueber die drei Wege des Denkens. Wir kommen zu dem Begriffe |der Welt wie zu jedem allgemeinen Urtheile und verstehen zunächst darunter nichts weiter als Alles. Ob sie unendlich sei oder nicht, das ist ganz eine Sache für sich. Da wir Raum und Zeit als unendlich annehmen, d. h. da wir in uns keine Veranlassung finden, dem Räume oder der Zeit eine Grenze zu setzen, ist der Mensch zu- nächst geneigt, die Welt für unendlich zu halten, d. h. ihre Grenze zu verneinen. Wie aber Jeder bei näherer Ueberiegung einsieht, dass die Frage, ob Raum und Zeit wirklich unendlich sind, ganz unabhängig von der ist, ob wir uns ihr Ende anschaulich vorstellen können, so begreift auch Jeder, dass die Unendlichkeit der Welt nur eine voriäufige Redensart ist, und wenn man ihm die Gründe auseinandersetzt, sieht er auch ein, dass thatsächlich die Welt nur als endlich gedacht werden kann. Naturwissenschaftlich ist die Welt gleich der Zahl der vorhandenen Atome oder Materie. Für die dritte Ansicht, der das Materielle zu einem Signal des für sich Daseienden, des Wollens geworden ist, zeigen sich zwei Wege. Entweder sie kann die Welt, die alle Dinge umfasst, gleichsetzen einem wollenden Wesen, das alle einzelnen Willen umfasst, in sich fasst, oder sie kann meinen, wie die Naturbetrachtung beim Atom, so müsse die inneriiche Betrachtung beim innerlich Ein- fachen, einem Willensatom endigen. Versuchen wir zunächst, wohin die zweite Meinung, die sozusagen ein Haus aus blossem Sande erbaut, uns führt. Die Atomistik hat sich in der Physik bewährt, also muss sie überhaupt gut sein. Obwohl wir bei aufmerksamer "D Digitized by Google 49 1. Ueber dk drei Wege des Denkens. Beobachtung unserer selbst uns nicht im geringsten veranlasst fühlen, unser Bewusstsein in kleinste Theil- chen zu zerlegen, ja der Gedanke eines momentanen Wollens ohne Gegenstand, worin man den Repräsen- tanten eines psychischen Atoms sehen könnte, im höchsten Grade unsinnig ist (scherzhaft zu reden, ist das hölzerne Eisen ein Waisenknabe gegen ihn), so macht man sich doch eine Vorstellung von einer Atom- Seele zurecht Alle Körper sind Systeme einer be- stimmten Zahl von Atomen, also sind auch die Seelen, die wir wirklich kertnen, gleich einer Zahl von Atom- Seelen, sie sind ein „Summationsphänomen". Denken kann sich dabei kein Mensch etwas, aber was thut das? Es giebt ja in der Physik Summationphänomene, das genügt. Ueberdem sind die Atom-Seelen nützlich, sie lassen die transcendente Causalität durch ein Hinter- thürchen wieder herein. Die Atom-Seelen, aus denen die Luft besteht, wirken auf die Atom-Seelen, aus denen unser Ohr und unser Gehirn bestehen. Dann bilden wir uns ein, etwas zu hören, in Wirklichkeit wird aber die Thätigkeit der Gehirn-Atom-Seelen summirt. Da- mit sind wir beim alten bequemen Materialismus an- gelangt; die Namen klingen ein Bischen anders, aber die Sache ist dieselbe, und wir finden uns in vollem Einverständnisse mit der „mechanischen Weltansicht". Dieses Einverständniss ist freilich theuer erkauft mit den Begriffen der Atom-Seele und des Summation- phänomens. Will man sich einmal bei den Worten nichts denken, so braucht man sich gar nicht so an- zustrengen, man bleibt dann besser von vornherein bei Möbius, Werke. VI. Digitized by Google 50 1. Ueber die drei Wege des Denkens. der nackten transcendenten Causalität und dem ge- meinen Materialismus. Vielleicht ist die Atom-Seele nur eine Verirrung vom rechten Wege. Wir finden, dass unser einheit- liches Bewusstsein sich als materielle Mannigfaltigkeit darstellt, als eine Zahl von Ganglienzellen. Anderer- seits haben wir Orund zu der Annahme eines Zellen- bewusstseins. Es könnte nun dieselbe Sache sich bei der Zelle wiederholen. Auch sie ist materiell ein Mannig- faltiges, eine Zahl von Molekülen. Wir würden nach Analogie als kleinsten Repräsentanten eines Bewusst- seins das Molekül annehmen und von einer Molekül- Seele sprechen. Diese würde psychisch nichts Ein- faches sein und damit denkbar bleiben, sie würde materiell ebenfalls durch ein System schwingender Theilchen dargestellt sein, und sie würde thatsächlich brauchbar sein als letzte Einheit im geistigen Stufen- bau der Welt. Ihre Annahme dürfte nicht nur be- rechtigt, sondern unumgänglich sein. Immer aber muss die Bewusstseinseinheit materiell als ein Mannigfaltiges gedacht werden. Schwierigkeiten hat das nur für Den, der vergisst, dass die Atome überhaupt nur etwas Ge- dachtes sind, dass die ganze materielle Welt nur ein Sein für Andere ist. Aus einer Summation von Molekül-Seelen kann niemals ein Zellenbewusstsein entstehen, aus einer solchen von Zellen-Seelen niemals ein menschliches Bewusstsein. Und doch ist dieses da. Der Mensch ist Einer, handelt, lebt und stirbt als Einer, trotzdem dass er sozusagen nur einen Zellenstaat darstellt Beim n Digitized by Google 51 1. Ueber die drei Wege des Denkens. nationalen Staate braucht man die Einheit nur als eine von den Seelen seiner Bürger vorgestellte zu denken. Beim Zellenstaate unseres Leibes aber wissen wir aus der sichersten Quelle, dass die Einheit nicht nur ideal ist. Wir wissen, dass sie in Wirklichkeit vorhanden, und dass sie die Hauptsache ist, denn Niemand wird glauben, dass er nur dazu da sei, damit die in ihm vereinigten Zellen ein geregeltes und vernünftiges Leben führen. Die gleiche Betrachtung kann für den MolekOl- staat der Zellen wiederholt werden. Was zwischen den Zellen ist, das ist aus den Zellen entstanden. Es sind Moleküle, die sozusagen aus dem Staatsverbande ausgetreten sind, Seelen, die nicht mehr durch die ihnen zunächst vorgesetzte Bewusstseinseinheit zu einem Ganzen verknüpft werden. So nur lässt sich der Unter- schied zwischen dem Unorganischen und dem Orga- nisirten im Sinne der dritten Ansicht fassen. Von selbst drängt sich der Gedanke auf, dass das, was vom menschlichen System gelte, auf das irdische übertragen werden könne. Was dort die Zellen sind, das sind hier die Organismen, was dort die Intercellular- masse ist, das ist hier das Unorganische der Erde überhaupt. Wie das Zwischengewebe während der Entwickelung des Organismus von den Zellen ausge- schieden wird, so muss das Unorganische überhaupt in der Urzeit von dem Organischen ausgeschieden worden sein. Wie der Einheit des Zellen-Organismus ein einheitliches Bewusstsein entspricht, so muss auch der Einheit der Erdform ein einheitliches Bewusstsein entsprechen, und dieses muss gerade so die Haupt- Digitized by Google 52 1. Ueber die drei Wege des Denkens. Sache sein, wie das menschliche Bewusstsein es im Menschen ist Diese Auffassung ist fQr die Majestät des Menschengeistes etwas weniger schmeichelhaft als die landläufigen Anschauungen, und vielleicht ist dies ein Grund, warum sie so Vielen als „phantastisch" er- scheint. Als nächst höhere Einheit muss man die des Sonnensystemes betrachten. Den Gang weiter fort- zusetzen, dazu liegt für uns Menschen kaum ein Be- dürfniss vor. So berechtigt wie diese Betrachtungen sind, so führen sie uns doch nicht zu dem Ziele, nach dem wir streben. Die Individuation ist das Wunder hw^ ISoxtjv. Atom und Individuum bedeuten beide das Untheilbare. Aus Atomen kann man nicht wieder ein Atom machen. Aus Individuen wird aber thatsächlich wieder ein In- dividuum. Dies ist das Wunderbare, das kein Wort, am wenigsten der dürftige Begriff der Summation zu- decken kann. Hätten wir auf der einen Seite die be- w^e Materie, auf der anderen ein umfassendes Be- wusstsein, ein Wollen, dessen Gegenstand seine eigene Mannigfaltigkeit wäre, so erschiene die Sache als einfach. Nun aber zeigt sich das Schachtelsystem der Bewusst- seinseinheiten, für das wir in der exacten Naturbetrach- tung kein Gegenstück finden, da doch hier die Schwin- gungen ohne Unterbrechung durch das Ganze ziehen. Unser menschliches Bewusstsein weiss von vornherein weder von den Zellenseelen etwas, auf deren Grunde es sozusagen aufgebaut ist, noch von dem Bewusst- Digitized by Google 53 1. Ueber die drei Wege des Denkens. sein der Erde, das wir vorläufig angenommen haben und zu dem sich unser Bewusstsein verhalten muss, wie die Zellenseele zu dem unseren. In gleicher Weise müssen wir voraussetzen, dass das Zellenbewusstsein ganz ohne Kunde von den Molekül-Seelen ist, und das Erd-Bewusstsein ohne Kunde von den Seelen der irdischen Organismen. Von neuem droht die Welt auseinanderzufallen, wenn nicht in Stäubchen, so doch in Hohlkugeln, von denen die einen in den anderen stecken. Nun ist aber doch der Zusammenhang des Ganzen unverkennbar. Der gesetzliche Causal-Zusammenhang, der für den sich nicht die Augen Zuhaltenden zugleich ein teleologischer ist, kennt keine Grenzen, und die eine Bewusstseinseinheit wirkt doch zweifellos in die andere hinein. Wir müssen also wohl glauben, dass ein ein- heitliches Wollen dem Ganzen entspricht und dass die Abtrennung des Individuum nicht vollständig ist. Ge- brauchen wir ein Bild. Blickt Jemand in eine Halb- kugel hinein, ohne sich umkehren zu können, so mag er wohl glauben, dass er ganz eingesperrt sei, indessen doch die Halbkugel nach hinten offen ist, daher ihr Raum mit dem Ganzen in Eins zusammenfliesst. So mag denn jedes individuelle Bewusstsein sich selbst als ein Ganzes erscheinen, während es dem Gesammt- geiste (um der Kürze wegen so zu sagen) nur aufsitzt, und dieser frei mit ihm verkehrt. In ihm sind alle Individuen, und er ist in Allen, durch ihn allein stehen jene mit einander in Verbindung und wirken auf einander. Der Gesammtgeist oder das allgemeine Digitized by Google 54 1. lieber die drei Wege des Denkens. n Wollen ist das Gegenstück der Materie und die all- gemeinsten Bestimmungen dieser müssen auch dort Anwendung finden. Wie die Materie kann der Oe- sammtgeist nicht vermehrt, noch vermindert werden, und wie die Quantität der Kraft die gleiche bleibt, so muss auch die Energie des Wollens eine stetige sein. Die Uebertragung des Gesetzes von der Erhaltung der Energie auf das Geistige ist eine Forderung des Denkens. Scheint es vom individuellen Standpunkte aus anders zu sein, so kann das nur an der Beschränktheit des Individuum liegen, das den Zusammenhang nicht ge- nügend verfolgen kann. Es fragt sich, inwieweit wir die in uns gefunde- nen Bestimmungen auf den allgemeinen Geist über- tragen können. Wenn wir ihn Geist nennen, so sagen wir damit, dass er etwas will, und dass sein Wollen oder Nichtwollen von Lust oder Unlust bestimmt wird. Es wird femer nicht bestritten, dass die Gesetze unseres Wollens, die wir in den logischen Regeln kennen lernen, auch in ihm gelten, dass auch er einen Widerspruch nicht wollen kann. Dagegen wird von verschiedenen Seiten, am nachdrücklichsten von E. v. Hartmann be- hauptet, dass man den allgemeinen Geist nicht als be- wussten bezeichnen könne. Dass er für uns ein Un- bewusstes ist, versteht sich von selbst. Es handelt sich darum, ob ein absolut Unbewusstes vorstellbar sei, ob, auch wenn dies nicht der Fall sein sollte, dem allgemeinen Geiste doch das Prädicat bewusst abgesprochen werden Digitized by Google 55 1. Ueber die drei Wege des Denkens. müsse. Die erste Frage muss ich verneinen. Die Gegenüberstellung, bewusst oder unbewusst, hat für mich nur insofern Sinn, als unter unbewusst relativ unbewusst verstanden wird. Mein Denkvermögen (und schliesslich kann hier Jeder nur von sich selbst sprechen) vermag das absolut Unbewusste nur als reine Negation zu fassen. Nun kommt es auf die Gründe an, wegen deren dieser unvollziehbare Begriff unumgänglich sein soll. Man sagt, die Thatsache der Schwelle sei ein solcher Grund. Jede materielle Bewegung, an die sich für uns Empfindung knüpfen kann, muss erst eine gewisse Stärke erreicht haben, ehe die Empfindung eintritt. Es ist aber nicht einzusehen, warum die Vor- gänge unter der Schwelle nicht als relativ unbewusste angesehen werden können. Thatsächlich ist die Schwelle beweglich, der Schwellenwerth steht im umgekehrten Verhältnisse zur Aufmerksamkeit, und auch dann, wenn angenommen wird, dass sehr schwache psycho-phy- sische Bewegungen unter keinen Umständen mit einer Veränderung in unserem Bewusstsein verknüpft sind, so vermögen sie doch sehr wohl Veränderungen im allgemeinen Bewusstsein zu entsprechen, zu dem sich das unsrige wie ein Aufsatz verhält. Weiter sagt man: das Bewusstsein entsteht erst durch den Zusammen- stoss zweier Willen, das aber, was das Bewusstsein erst erzeugt, kann als solches noch nicht bewusst sein. Für das individuelle Bewusstsein trifft dies gewiss zu, da dies eben erst aus dem allgemeinen Bewusstsein entstehen kann. Dass wir uns über den Anfang der Welt überhaupt eine Vorstellung machen könnten, be- Digitized by Google 56 1. Ueber die drei Wege des Denkens. streite ich. Dagegen lässt sich wohl fragen, wie sich erfohrungsgemäss die Sache darstellt, ob thatsächlich Bewusstsein sich irgendwie aus Unbewusstsein ent- wickelt. Das ist die alte Frage, ob die Henne eher da sei, als das Ei. Die gewöhnliche Naturauffassung nimmt mit E. v. Hartmann an, dass das Ei zuerst da- gewesen sei, indem sie die Organismen aus dem Un- organischen hervorgehen lässt Diese Meinung führt dann auf die Urzeugung oder gar auf den „geistreichen" Gedanken, dass zufällig ein Meteorstein organische Keime auf die todte Erde verpflanzt habe. Es hängt eben alles an dem Begriffe der todten Erde. Für uns ist die Erde ein Organismus, der einen ähnlichen Ent- wickdungsgang durchmacht, wie die Organismen auf der Erde. Ihr anfängliches Unbewusstsein kann nur als ein relatives gedeutet werden. Sie würde nie Träge- rin von Bewusstsein geworden sein, stammte sie nicht aus Bewusstsein. So wird durch den Rückgang auf die Kosmogonie die Frage nur verschoben und lautet schliesslich Welt-Henne oder Welt-Ei? Wer mag antworten? Wer will verbieten, bei der Welt-Henne zu bleiben? Ein dritter Qrund wird so gefasst, dass man das Ganze nicht bewusst nennen dürfe, weil nur das Eine an dem Andern bewusst werden könne. Nun kann allerdings kein Bewusstsein (aber auch kein unbewusster Geist) gedacht werden, in dem Wollen und Gegenstand zusammenfielen. Aber der allgemeine Geist trägt eben alle Mannigfaltigkeit in sich und ist bewusst, indem er in sich unterscheidet. Wenn trotz alledem und alledem an dem absolut Digitized by Google 57 1. lieber die drei Wege des Denkens. unbewussten Geiste festgehalten wird, so dürfte es wenigstens unzulässig sein, Ober ihn überhaupt etwas auszusagen. Wie von Zwecken des absolut Unbe- wussten, von seiner Vorsehung gesprochen werden könnte, das bleibt schwer verständlich. Absolut unbe- wusste Zwecke dürften nicht viel besser sein als ob- jective Zwecke.' Endlich könnte man unter dem unbewussten Geiste so etwas zwischen Materie und Geist verstehen, was hinter beiden steckte. Dann aber thäte man wohl besser, für ein solches Noumenon einen besonderen Namen zu wählen. Wollte man den allgemeinen Geist überbewusst statt bewusst nennen, so wäre dagegen nicht viel einzu- wenden, sofern wie man damit nur meinte, dass die Fülle seines Wesens weit über unser Fassen und Begrdfen hinausreicht Neues freilich würde man damit nicht sagen. Digitized by Google 58 Anhang (1891). Anhang (1891). Bisher befolgten philosophische Schriftsteller die Sitte, Fechners Psychophysik mit einer Verbeugung zu ehren, seine Metaphysik abertodtzuschweigen. Nach- dem Fechner, der dieses Todtschweigen bitter genug empfunden hat, todt ist, bringt man, wie es scheint, seinen Gedanken über die höchsten und letzten Dinge mehr Theilnahme entgegen. Auch Eduard von Hart- mann hat sich neuerdings wiederholt mit Fechners Metaphysik beschäftigt, zuletzt in einem Aufsatze, der unter der Ueberschrift „Fechners Universalbewusst- sein" im Junihefte der „Sphinx" erschienen ist Hart- mann bekämpft Fechners Glauben an eine Seele der Erde, bez. der Gestirne, und ein an göttliches, alles um- fassendes und tragendes Bewusstsein. Was Fechner auf Hartmanns Ausführung geantwortet haben würde, weiss ich nicht; aber ich glaube, dass ihn Hartmanns Kritik nicht erschüttert haben würde, und zwar des- halb, weil dieser gewisse Auffassungen als fundamen- tal ansieht, die es nach Fechners Sinne nicht sind, und weil Hartmann auf metaphysische Speculationen eingeht, die Fechner, in seiner späteren Zeit wenigstens, grundsätzlich ablehnte. Hartmann bezieht sich fast ausschliesslich auf den im Jahre 1851 erschienenen „Zend Avesta'*, berücksichtigt Fechners spätere Schrif- Digitized by Google 59 Anhang (1891). X3 ten fast gar nicht. Zwar hat Fechner dem im „Zend Avesta" Dargestellten nie widersprochen, doch hat er später manches schärfer gefasst und manches beiseite gelassen. Ich habe in einer kleinen Schrift „Ueber die drei Wege des Denkens" meine Orundansicht dargestellt. Darin ist meiner Meinung nach das Wesentliche der Fechnerschen Lehre festgehalten, jedoch sind die Ge- danken so gefasst, dass sich Hartmanns gegen diese Lehre ausgesprochene Bedenken eriedigen. Es sei mir gestattet, mit wenigen Worten auf die Hauptpunkte einzugehen. 1. Hartmann nimmt mit Fechner einen Stufenbau der Individualitäten an, betont aber, dass die Höhe der Bewusstseins-Schwelle der Ranghöhe des Individuum direkt proportional sei, derart, dass die Schwelle beim einfachsten Individuum am niedrigsten, beim compli- cirtesten am höchsten sei. Die Schwelle der Zelle sei eine relativ niedrigere als die des Menschen, und, wenn eine Erdseele besteht, müsse deren Schwelle höher sein als die des Menschen. In diesem Punkte will ich Hartmann nicht widersprechen, wenn wir auch im Grunde über diese Dinge nichts Genaues wissen. Nur nebenbei sei bemerkt, dass seine Darstellung den Irr- thum hervorrufen könnte, als habe Fechner eine Atom- Seele angenommen. Dieser hielt vielmehr mit Recht solche Annahme für widersinnig und hat sie ebenso wie die einer Centralmonade (von der Hartmann leider auch spricht) bekämpft, als mit seiner synechologischen Grundanschauung unverträglich. Digitized by Google 60 Anhang (1891). Die Folgerungen Hartmanns aus der Schwellcn- höhe lassen sich nur so lange gegen Fechners Haupt- lehre kehren, wie man den göttlichen Geist als oberstes Individuum in der Reihe der Individuen ansieht Bildet man die Reihe: Moleküle, Zelle, Mensch, Erde . . . Gott, so fällt allerdings das, was z. B. in das Zellenbewusst- sein fällt, nicht in das menschliche, und vermuthlich auch das, was in das menschliche Bewusstsein fällt, so wenig in das göttliche wie in das Erdbewusstsein. Die Schwierigkeit aber ist beseitigt, sobald wie man annimmt, dass die Reihe der gegen einander abgeschlos- senen und über einander gebauten Individualitätstufen auf dem göttlichen Bewusstsein als auf seinem Grunde ruht. Dieses ist doch nicht die Spitze der Pyramide, sondern die Pyramide selbst. Der Mensch weiss nichts von der Zellenseele, und^diese nichts von der seinigen, aber die beiden, die gegen einander abgeschlossen sind, sind offen gegen den göttlichen Geist Von einer Schwelle zu sprechen, hat nur gegenüber den Indivi- duen einen Sinn, bei dem allgemeinen, dem göttlichen Geiste fällt der Begriff der Schwelle weg. 2. Hartmann bekämpft die Annahme einer Erd- seele, weil „die Güte der Leitung" zwischen den Ge- hirnen auf der Erde nicht ausreiche, um ein die ein- zelnen „Bewusstseine", bez. Gehirne, übergreifendes, einheitliches Bewusstsein anzunehmen. Das scheint mir eine etwas wunderiiche Verallgemeinerung eines für die gewöhnliche Physiologie geltenden Satzes zu sein. Im einzelnen Thiere müssen allerdings, wenn ein oberstes Bewusstsein vorhanden sein soll, die Nerven- Digitized by Google 61 Anhang (1891). knoten in gewisser Weise verbunden sein. Die Erde ist aber eben kein Thier, und die Einrichtungen des Erdorganismus sind eben nicht noch einmal die des Thierleibes. Fechner hat sich unglaubliche Mühe ge- geben, um Einwürfen dieser Art zu begegnen; sie kommen aber immer wieder. In der Metaphysik ist der Glaube an ein Oestim- bewusstsein unentbehrlich, aber immerhin ist er rein theoretisch. Will ihn Jemand nicht annehmen, so kann er doch im Uebrigen der „Tagesansicht" folgen und sich als Kind und Theil des göttlichen Geistes fühlen. 3. Abgesehen von Punkt 2 ist eigentlich zwischen Hartmanns Auffassung und der meinigen nur der durch- greifende Unterschied vorhanden, dass Hartmann es für unumgänglich hält, dem allgemeinen oder gött- lichen Geiste das Beiwort „unbewusst" zuzuerkennen. Meiner Meinung nach hat die Unterscheidung zwischen bewusst und unbewusst nur ^ in der menschlichen, bez. individuellen Psychologie ein Recht Der göttliche Geist ist uns so unfassbar, dass die Speculationen über die Form des göttlichen Denkens als Vermessen- heit erscheinen. Unser Denken führt uns zu dem Glauben an den allgemeinen Geist, wenn wir aber darüber streiten, ob er sich etwas überlegt, wie ein Mensch sich etwas überlegt,» oder nicht, dann treiben wir ein kindlich Spiel Ueberträgt man die Unter- scheidung von bewusst und unbewusst auf den gött- lichen Geist, so muss man zu Widersprüchen gelangen. In der That spricht Hartmann von einer Vorsehung Digitized by Google 62 Anhang (1891). des Unbewussten und von Zwecken des Unbewussten: sein Denken wird durch die Gewalt der Thatsachen zum Glauben an die Vorsehung geführt, und doch mag er die Speculation über das Unbewusste nicht auf- geben. Wenn Fechner und Die, die mit ihm gehen, den göttlichen Geist bewusst nennen, so wollen sie damit nicht sagen, dass das göttliche Bewusstsein ein in das Unendliche vergrössertes menschliches Bewusst- sein sei. Die Sache liegt doch so: das Unbewusste ist geistige Thätigkeit ohne Bewusstsein. Jenes ist also diesem gegenüber ein Minus, solange wie man sich unter den Worten etwas denken soll. Bei dem gött- lichen Geiste von einem Minus zu reden, das will mir als ein Widersinn erscheinen. Wie können wir mehr haben, als Gott hat? Wohl hat er unendlich mehr als wir, aber dass er auch das habe, was wir haben, dies zu glauben, scheint mir ebenso wohl ein Bedürfniss des Geistes wie des Herzens zu sein. Hartmann hat ein schönes Buch geschrieben, seine Religionsphilo- sophie. In dieser zeigt sich am deutlichsten, dass nur das eine Wort „unbewusst" ihn von Fechners Art zu denken trennt. Fällt diese Schranke, und ich glaube, dass sie mit der Zeit fallen wird, so ist auch Hartmann ein Anhänger der „Tagesansicht". Digitized by Google II. Drei Gespräche über Religion. TU Digitized by Google Digitized by Google 65 2, Drei Gespräche über Religion. L Philalethes: Siehe, wer wandelt da gedankenvoll unter blühenden Bäumen? Paulus: Outen Tag, alter Freund; ich komme vom Festmahle zu Ehren des Namenstages des Fürsten und musste Dich leider dabei vermissen. Philalethes: Du weisst, dass ich seit lange Fest- mahle als Teufelswerk betrachten muss. Dich freilich nöthigt Deine Stellung zur Theilnahme; aber auch an Dir vermisse ich die erheiternde Wirkung des Festes. Paulus: Gedanken, die schon in den letzten Tagen mich bewegten, kamen mir heute aufs Neue und zeigten mir Dunkles hinter dem Hellen. Daheim, im Amte, nimmt mich des Tages Sorge in Anspruch, hier aber, in diesem stillen Badeorte, wo ein freundliches Schicksal mich mit Dir, dem Genossen meiner Jugend, zusammengeführt hat, öffnet sich der Sinn für weiter ausgreifende Betrachtungen. Philalethes: Lass hören, was Dein Herz bedrängt. Wir wollen uns auf diese Bank setzen und, die Blicke auf das liebliche Thal richtend, mit einander philoso-* phiren, wie wir es früher thaten. Möbius, Werke, VI. Digitized by Google 66 2. Drei Gespräche über Religion. Paulus: Es waren heute Mittag „die Vertreter von Bildung und Besitz" vereinigt, so viele es Deren hier zu geben scheint — Anwesende natürlich ausgenom- men — , es wurden viele Reden gehalten, und auch nach Tisch wurden lebhafte Gespräche geführt. Man konnte dabei sehen, was den Leuten am Herzen liegt. Da wurde begeistert geredet vom Reiche, vom Volks- thume, von Kolonieen, von den gewaltigen Fortschritten und dem Segen der Wissenschaft, von der Bedeutung der Industrie und des Handels, von Politik und So- zialismus, von der sogenannten Frauenfrage und der Erziehung, kurz, von allem Möglichen. Der Präsident hatte in seinem Trinkspruche auf den Fürsten unter dessen Tugenden auch seinen kirchlichen Sinn gerühmt; „denn", sagte er, „die Religion muss dem Volke er- halten werden". Diesen Gedanken griff der Super- intendent auf und führte ihn nach seiner Weise aus. Während der Rede des Geistlichen bemerkte ich zwar nur bei Einigen Gähnen oder ein spöttisches Lächeln; aber unbehaglich war sie offenbar den Meisten. Später klopfte ich des Versuches halber bei Dem und Jenem an und begann von der Bedeutung der Religion zu sprechen. In der höflichen, aber kühlen Zustimmung war die Ablehnung nicht zu verkennen. Kurz, ich er- kannte bei dieser Gelegenheit von Neuem, wie trotz der geistigen Regsamkeit der Gesellschaft ihr Sinn den religiösen Fragen verschlossen ist, wie in der moder- nen Einrichtung die Religion sozusagen als ein respek- tables, aber praktisch nicht verwendbares Ausstattung- stück angesehen wird. Digitized by Google 67 2. Drei Gespräche über Religion, Philalethes: Zu Deiner Schilderung kann ich Dir ein Gegenstück liefern. Gestern Abend besuchte ich eine Volksversammlung in der benachbarten Kreisstadt. Ein Wanderprediger donnerte gegen den Wunderglauben und gegen die Pfaffen. Trotz einzelnen Aeusserungen des Beifalls war die in der Hauptsache aus Arbeitern bestehende Zuhörerschaft offenbar durch den Vortrag gelangweilt. Als zweiter Redner trat ein Arbeiter auf und Dieser erklärte: Religion sei Privatsache, sie hätten sich mit wichtigeren Dingen zu beschäftigen. Dann berichtete er über einen neuen Strike in der Haupt- stadt, und nun folgten Alle seinen Ausführungen mit der lebhaftesten Theilnahme. Paulus: Siehst Du auf der entfernten Höhe das kleine Dörfchen, dessen Kirchthurm eben von der Sonne beschienen wird? Philalethes: Gewiss. Paulus: Dort war ich am vergangenen Sonntage. Die Gemeinde kam fast vollzählig in die Kirche, und ich konnte während des Gottesdienstes bemerken, dass sich die Leute, von denen offenbar die grosse Mehr- zahl arm ist, wohl fühlten. Es lag auf den Gesichtern eine — ich möchte sagen: ernste — Heiterkeit, und die durchaus nicht schönen Stimmen sangen die alten Lieder so eifrig, dass mich eine Art von Rührung er- griff. Beim Verlassen der Kirche beteten Viele an den Gräbern ihrer Angehörigen. Der Geistliche, ein ein- facher, aber wohlwollender Mann, der mich durch das Dorf führte, rühmte mit warmen Worten den frommen Sinn der Gemeinde, ihre Nüchternheit, ihren Fleiss, Digitized by Google 68 2. Drei Gespräche über Religion. die Ehrfurcht der Jüngeren vor den Eltern und den Alten, die Tapferkeit der Leute in Krankheit und Noth und ihre fröhliche Zuversicht im Sterben. Philalethes: Es ist gar nicht daran zu zweifeln, dass die Religion Dem, der sie hat, grössere Wohl- thaten erweisen kann als irgend eine Macht der Erde. Das Schlimme ist nur, dass man gerade das nicht hat, was man braucht Paulus: Eben dieser Oedanke bedrückt mich. [Die Statistik lehrt uns, dass Trunksucht, Verbrechen, Irr- sinn viel rascher wachsen als die Zahl der Bevölke- rung. Die nächste Ursache dieser und anderer Uebel ist zweifellos die Noth des Lebens. Das wichtigste Heilmittel ist daher die Besserung der Lebensverhält- nisse. Doch Niemand kann erwarten, dass die Noth gänzlich beseitigt werden könne. Wer weiss nicht, dass in der Welt, wie sie ist, eher das Leben erlischt als die Noth? Also angenommen, wir fänden die besten politischen und sozialen Einrichtungen, so würde immer noch ein bedenklicher Rest der Noth bleiben. Wir würden danach suchen müssen, was etwa die Noth des Lebens weniger fühlbar machte, und wie dies hohe Out Allen zugänglich gemacht werden könnte. Nun aber finden wir schon ein solches Out und sorg- fältig entwickelte Einrichtungen zu seiner Verbreitung vor, nämlich die Religion und ihre Form, die Kirche. Der Blick auf das Ewige giebt dem Oläubigen im Un- glücke Trost und im Sturme des Lebens Frieden. Die Hoffnung auf endliche Oerechtigkeit und zukünftige Vergeltung erieichtert Leben und Sterben. Die Welt Digitized by Google 69 2. Drei Gespräche über Religion. -D des Glaubens wölbt sich sozusagen über der Wirklich- keit wie ein Reich des Friedens, in das der Gläubige jederzeit flüchten kann, und aus dem er neugestärkt zur Arbeit zurückkehrt. Die fassliche Gestalt dieses Idealen aber ist in der Kirche gegeben, deren ehrwürdige Lebensformen das Alltagsleben verschönen, und deren Heilmittel auch dem Aermsten zugänglich sind. Philalethes: Das hast Du sehr schön gesagt. Ge- statte mir jedoch die Bemerkung, dass der von Dir erwähnte Präsident ähnlich zu denken scheint und dass Ihr, er wie Du, Etwas verschenken möchtet, das Ihr selbst nicht besitzt. Paulus: Du drückst Dich ein Wenig hart aus. Philalethes: Täusche Dich nicht. Die sogenannten Gebildeten machen der Religion eine Verbeugung, ob- wohl sie keine Verwendung für sie haben, weil sie glauben, sie möchte gut sein zur Zügelung des Volkes. Dieses empfindet vielfach geradezu Abneigung gegen die Religion, weil es jenen Gedanken der Gebildeten kennt. Du und Deinesgleichen, Ihr seht tiefer und möchtet aus gutem Herzen dem Volke Religion ver- schaffen, aber auch Ihr seid moderne Menschen, auch durch Euch geht der Riss, der Gestern und Heute trennt, und was Ihr wünscht. Das könnt Ihr nicht er- fassen. Paulus: Ich muss freilich gestehen, dass auch ich keine der geltenden Kirchenlehren anzuerkennen ver- mag, aber ich hege doch die Hoffnung, es möchte ge- lingen, den schönen und unvergänglichen Kern der Reli- Digitized by Google 70 2. Drei Gespräche über Religion. gion aus der Schale der historischen Gebilde zu lösen und uns zu erhalten. Philalethes; Im Grunde hoffe ich Das auch; aber was ist dieser Kern? Paulus: Nun, ich denke, zunächst der Glaube an Gott und an ein Jenseits. Philalethes: Das dachte man vor hundert Jahren auch, aber man hat nicht viel damit erreicht. Mir scheint der Irrthum der Aufklärung darin zu liegen, dass sie den religiösen Glauben mit einem philosophi- schen Glauben verwechselte. Paulus: Erkläre mir Das näher. Philalethes: .Du wirst Dich der theologischen Er- örterungen über den Begriff des Glaubens erinnern. Sie laufen darauf hinaus, dass da, wo fides steht, nicht fides, sondern fiducia gedacht werde. Ehriicher als diese Künste ist der Ebräerbrief. Er sagt: „Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht Dessen, das man hoffet, und nicht zweifelt an Dem, das man nicht siehet." Mit anderen Worten: Gewissheit über Das, was man nicht weiss. Gewissheit, darauf kommt es an, nicht auf Fürwahrhalten überhaupt; ohne Gewiss- heit giebt es keinen religiösen Glauben. Sieht man Das ein, so erkennt man ohne Weiteres, dass der wissenschaftliche Sinn der Tod des Glaubens ist. Es ist nicht richtig, dass die Ergebnisse der Wissenschaft das eigentlich Gefähriiche seien. Zwar hat die Lehre des Kopernikus der christlichen Weltauffassung eine unheilbare Wunde beigebracht, aber zur Noth Hesse sich mit dieser und anderen wissenschaftlichen Lehren Digitized by Google 71 2. Drei Gespräche über Religion. auskommen. Nein, der wissenschaftliche Geist ist der Feind des Glaubens. Er muss seiner Natur nach an Allem zweifeln, er will, dass die subjektive Gewissheit mit der objektiven Gewissheit zusammenfalle, dass alles Nichtgewisse nur den ihm zukommenden Grad von Wahrscheinlichkeit habe. Paulus: Wenn Das so ist, so hat freilich die Kirche mit ihrer von vorn herein vorhandenen Abneigung gegen die Wissenschaft nur allzu sehr Recht. Mich wundert dann nur, dass im Laufe der Zeiten sich noch so viel vom religiösen Glauben erhalten hat. Philalethes: Weil die wissenschaftliche Denkweise unnatürlich ist. Das Glauben ist das Natürliche: es ist vor dem Zweifel da und alle menschlichen Neigungen suchen es zu erhalten. Das Kind glaubt Dem, was ihm gesagt wird, denn es lernt das Wort nur durch Anknüpfung an Thatsachen verstehen, und es knüpft umgekehrt an das Wort die Thatsache. Eben so ver- hält sich der natürliche Mensch: er hat keine Gründe nöthig, zu glauben, wohl aber Gründe, nicht zu glauben. Erst, wenn lange Erfahrung gelehrt hat, dass die Wahr- nehmung trügt, das Denken Fehler macht. Andere uns wissentlich oder unwissentlich falsch berichten, können sich die Begriffe des Zweifels und der Wahrscheinlich- keit bilden. In eben dem Grade, wie Schärfe und Deut- lichkeit des Denkens wachsen, nimmt die Summe des Gewissen ab. Während für den wissenschaftlichen Menschen nur vernünftige Gründe gelten, beruht das Meiste, was die Menschen wirklich glauben, auf Ach- tung und dem Verfangen nach Lust, d. h. das Meiste Digitized by Google 72 2. Drei Gespräche über Religion. wird für wahr gehalten, weil es als wahr überliefert wird, und weil es angenehm ist, daran zu glauben. Die Gewissheit ist an sich lustvoll, die Ungewissheit un- lustvoll. Kommt dazu, dass das Geglaubte schön oder nützlich oder Beides ist, so erreichen die praktischen Gründe zum Glauben eine Stärke, die ausreicht gegen Vieles. Paulus: In Dem, was Du sagst, steckt ein ge- höriges Stück Kulturgeschichte. Indessen, Ueberlegung kann doch auch Gewissheit erzeugen. Philalethes: Im strengen Sinne des Wortes nicht. Wir sind gewiss, dass wir Das und Jenes wahrnehmen, wir sind des sogenannten Wissens a priori gewiss und Dessen, was richtig daraus erschlossen ist. Aber alle Erfahrung und Alles, was aus der Erfahrung je er- schlossen wird, hat nur Wahrscheinlichkeit. Freilich giebt es eine Wahrscheinlichkeit, die praktisch von der Gewissheit nicht verschieden ist. Ich kann z. B. mit Recht sagen: Ich bin gewiss, dass ich sterben werde, — obwohl die Sache nur sehr wahrscheinlich ist. Jedoch darf man nicht vergessen, dass es sich bei den Gegen- ständen des religiösen Glaubens immer um Dinge han- delt, bei denen nur eine verhältnissmässig geringe Wahr- scheinlichkeit erreicht werden kann. Paulus: Die Philosophen aber sind der zuletzt von Dir ausgesprochenen Meinung nicht gewesen; sie haben immer ihre Lehren für gewiss gehalten. Philalethes: Allerdings haben sie das meistens ge- than, aber in eben dem Grade entbehrten sie des wissen- schaftlichen Sinnes. Die meisten Philosophen waren u- Digitized by Google 73 2. Drei Gespräche über Religion. eine Art von Dichtem, und Jeder von ihnen gründete sozusagen eine Privatreligion. Wissenschaft kann man ihr Verfahren nicht heissen. Paulus: Mir scheint, Du willst die Möglichkeit einer Metaphysik bestreiten. Philalethes: Durchaus nicht. In dem Sinne freilich, dass Metaphysik eine Wissenschaft aus allgemeinen Begriffen wäre, deren Sätzen Nothwendigkeit zukäme, leugnen alle verständigen Leute das Vorhandensein einer Metaphysik — und Du mit ihnen. Wenn man aber unter Metaphysik die Vermuthungen versteht, die auf Grund einer möglichst umfassenden Erfahrung mit Hilfe rechter Schlussweisen über das Jenseits der Er- fahrung aufgestellt werden, so fällt jeder berechtigte Einwand weg. Paulus: Schreibst Du allen in Deinem Sinne meta- physischen Sätzen nur geringe Wahrscheinlichkeit zu? Philalethes: Nein, denn der Satz, dass Du eine Seele, d. h. ein Innenleben habest wie ich, oder gar der, dass mein Pudel eine Seele habe, gehören im Grunde zur Metaphysik. Je weiter aber die» Schlüsse greifen, um so geringer wird die Wahrscheinlichkeit, und alle die metaphysischen Anschauungen über die Gegenstände des religiösen Glaubens können ihrer Natur nach nicht mit grosser Sicherheit auftreten. Paulus: Nach Alledem würde nicht sowohl der Inhalt als die Form der Sätze den Unterschied zwischen Religion und Metaphysik ausmachen. Philalethes: Gewiss, man könnte sich sogar denken, dass ein Metaphysiker auf die selben Sätze käme, die Digitized by Google 74 2. Drei Gespräche über Religion. den Inhalt einer geoffenbarten Religion bilden, und trotzdem würde der Graben unausgefüllt bleiben. Nicht Wenige z. B. halten es für wahrscheinlich, dass die Individualität eines Menschen mit dem Tode nicht ganz erlösche; es werden da gewisse Erfahrungen, Analo- gieen, Zweckmässigkeitgründe u. s. w. angezogen. Man nennt Das wohl einen Unsterblichkeitglauben; aber was ist dieses künstliche, schattenhafte Gebilde [neben dem lebendigen Glauben des Christen an sein Jenseits, das ihm gewisser ist als der Sonne Licht? Paulus: Ich muss gestehen, dass ich nicht recht weiss, wie ich Dir widersprechen könnte. Jedoch bliebe noch die Möglichkeit, dass der anfangs schwankende Glaube des Denkenden allmählich fest und dann dem religiösen Glauben ähnlich würde. Philalethes: Von vom herein ist ein wesentlicher Unterschied zwischen dem religiös Gläubigen und dem wissenschaftlich Denkenden der, dass Jener sagt: „Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben", d. h. dass er glauben will, während Dieser jede Beeinflussung seines Denkens durch sein Wünschen für etwas Ungehöriges, Tadelnswerthes hält und genau" weiss, dass er gar nicht glauben kann, wie er will. Der Gläubige hält die „gewisse Zuversicht" nicht nur für etwas Ange- nehmes, sondern für etwas an sich Gutes, der Denkende dagegen scheut sich vor ihr gerade aus moralischen Gründen; sein Gewissen treibt ihn dazu, so viel und so lange wie möglich zu zweifeln. Nun kommt das von Dir erwähnte Festwerden der Ueberzeugungen freilich alle Tage vor, aber es handelt sich dabei um Digitized by Google 75 2. Drei Gespräche über Religion. eine menschliche Schwäche, um ein Nachlassen der Kraft und der Besonnenheit. Viel Werth ist daher auf einen solchen steif gewordenen Glauben nicht zu legen, und es lohnt sich nicht, viele Worte darum zu machen. Paulus: Du Grausamer, ich kann Dir nicht ent- rinnen. Lass uns morgen weiter reden, denn heute ist die Sonne untergegangen, und es wird mir kalt. Digitized by Google nr 76 2. Drei Gespräche über Religion. II. Philalethes: Ei, da sitzest Du ja schon auf unserer Bank von gestern. Paulus: Ja, mich verlangt, unser Gespräch fortzu- setzen. Zunächst möchte ich Dich fragen: Ist es besser, zu schweigen, d. h. die zersetzende Kritik, mit der dem religiösen Glauben die Axt an die Wurzel gelegt wird, den Wenigen, die für sie reif sind, vorzubehalten, oder soll man die Verneinung verkünden? Thatsächlich ge- währt doch noch Vielen der Glaube Trost und Hoff- nung, und vielleicht ist der Schaden der Kritik grösser als ihr Nutzen. Philalethes: Mag ein Jeder es mit sich selbst aus- machen, wie weit er den „schwachen Bruder** schonen will. Ich für meine Person bin nicht für das Ver- schweigen, denn das Unvermeidliche möchte ich lieber befördern. Der Uebergang von der naiven Auffassung zum wissenschaftlichen Denken ist nothwendig. Es ist wahr, er vollzieht sich langsam und unter Schwank- ungen; aber es ist besser ein Freund des Zukünftigen zu sein als ein Hemmschuh. Ueberdies ist der gegen- wärtige Zustand doch auch nicht schön. Unser Leben Digitized by Google a 77 2. Drei Gespräche über Religion. ist durchwachsen von der Lüge, der Zwiespalt zerreisst das Volk, und fast durch jede Familie geht ein Riss. Wären Staat und Kirche getrennt, so Hesse sich die Sache eher ertragen. Jetzt aber zwingt der Staat seine Bürger zur schändlichsten Heuchelei. Jeder nach- denkende Mensch muss anerkennen, dass Niemand glauben kann, was er will; dass Der, dessen Urtheil den kirchlichen Glauben verneint, als anständiger Mensch ihn nicht bejahen kann. Trotzdem zwingt der Staat seine Beamten, nicht durch das Gesetz, aber thatsäch- lich, sich zu stellen, als ob sie dem Kirchenglauben anhingen. Ein Offizier oder ein Regirungsrath, der sich nicht trauen lassen, seine Kinder nicht taufen lassen wollte, könnte sich ohne Weiteres Visitenkarten mit „a. D." bestellen. Wir Alle müssen unsere Kinder in die Schule schicken und zusehen, dass ihnen da die alten Judengeschichten nicht als Poesie, wogegen nicht viel zu sagen wäre, sondern als bare Wahrheit beigebracht werden. Grausam genug wird erzogen, meine eigene Jugend beweist es mir. Wie jedes Kind, nahm ich vertrauensvoll Das auf, was man mich lehrte. Den Confirmanden-Unterricht erhielt ich bei einem geistvollen und beredten Geistlichen. Ihm gelang es, mich für die christliche Lehre zu begeistern. Von da begann der Zwiespalt. Ich wuchs in freisinnigen Bürger- kreisen auf; was mir heilig war, erregte oft bei den von mir Hochgeschätzten ein mildes Lächeln, dessen Bedeutung mir nicht entging. Peinlich war mir die Gymnasialzeit, denn so scharfsichtig war ich doch, dass ich den widerchristlichen Geist der klassischen Er- h Digitized by Google 78 2. Drei Gespräche fiber Religioti. Ziehung verstand; mein religiöses eben so wie mein nationales Empfinden litt dauernd im Gymnasium. Dass auch die modernen Klassiker, Shakespeare, Lessing, Goethe, Schiller von Herzen ungläubig waren, diese Einsicht vermehrte meine Noth. Trotz Alledem enU schloss ich mich, „Theologie" zu studiren, hoffend, es werde mir doch gelingen. Auch jetzt sah ich bei den Angehörigen der anderen Fakultäten jenes eigenthüm-» liehe Lächeln. Ziemlich drei Jahre kämpfte ich, dann wurde ich klar und nahm den Standpunkt ein, auf dem ich als alternder Mann heute noch stehe. Mein lieber voller Vater gewährte mir die Mittel, mich anderen Studien zuzuwenden, aber mein Leben hatte einen Bruch erhalten, und der Frohsinn der Jugend war vor-» über. War ich schuld an meinem Unglücke? Immer^ hin ist Das nur ein kleines Beispiel Die Geistlichen werden auf Bekenntnisse verpflichtet, an die sie — oder wenigstens viele von ihnen — nicht glauben. Das öffentliche wie das private Leben ist von kirch-» liehen Feieriichkeiten und Formen umschlossen, die für einen grossen Theil Derer, die sich ihnen unter* ziehen, nichts als Zwang sind. Die Kinder heucheln aus Liebe zu den Eltern, oder die Mütter vergiessen Thränen über den Unglauben der Söhne. Die Frau geht in die Kirche, der Mann zuckt die Achseln dazu, u. s. w. u. s. w. Paulus: Ja, lieber Freund, von der Zerrissenheit unserer Verhältnisse und von der Gleichgiltigkeit der sogenannten Gebildeten hier, der Arbeiter dort sind wir ja ausgegangen. Niemand mag die Peinlichkeit des Digitized by Google 79 2. Drei Gespräche über Religion. jetzigen Zustandes mehr als ich empfinden. Wenn ich nur einen Ausweg sähe. Philalethes: Deine Frage war: Kann man dem Volke die Religion erhalten, mit anderen Worten: Ist es mög- lich, rückwärts zu gehen? Darauf suchte ich Dir dar- zulegen, dass es unmöglich ist, den Glauben zu er- halten, dass die Entwickelung des menschlichen Denkens mit Notwendigkeit zur Zerstörung der gewissen Zu- versicht führt, von der der Ebräerbrief spricht. Ist meine Auffassung richtig, [dann kann freilich die Reli- gion so, wie sie ist, nicht erhalten werden, denn die gegebene Religion ist zum grossen Theile ein Für- wahrhalten. Paulus: Ich sehe, worauf Du hinauswillst. Du hoffst auf eine neue Religion. Philalethes: Nicht eigentlich. Ich meine, dass wir das Rechte schon haben, wenn auch verhüllt und mit Fremdartigem verbunden. Um es kurz zu sagen: Ich denke, dass, wenn man von der vorhandenen Religion Das abzieht, was Metaphysik ist, das eigentlich Werth- volle doch zurückbleibe. Paulus: Das wäre also die Moral. Philalethes: O, welches widerwärtige Wort! Wel- ches Bündel von Missverständnissen, Schulmeisterei und Professorendünkel! Die wirklichen mores, die Sitte und das ihnen entsprechende Verhalten, die Moralität oder Sittlichkeit auf der einen Seite, die ausgeklügelten Lehren der Philosophen über ein phantastisches Gesetz, über Das, was „schlechthin" gethan werden soll, auf Digitized by Google 80 2. Drei Gespräche über Religion. der anderen Seite: Das fasst man in Eins zusammen und hält sich noch für weise. Paulus: Da wäre ich also schlecht angekommen. Sage mir, Theuerster, was ist denn die Religion, wenn sie nicht Volksmetaphysik ist? Philalethes: Sie ist Heilslehre, Anweisung zur Glück- seligkeit. Wenn man vom Begriffe der Religion spricht, so pflegt man an die alten Ur-Religionen zu denken, geht auf deren Entstehung ein und leitet sie theils aus der Furcht vor Gewittern und anderen Erscheinungen, theils aus dem Glauben an Gespenster ab. Alles Das geht uns gar nichts an, denn wir haben es mit Reli- gionen zu thun, die in historischer Zeit von einzelnen Denkern begründet worden sind, insbesondere mit dem Buddhismus und dem Christenthume. Paulus: Vom Buddhismus weiss ich sehr wenig. Philalethes: Geradevon ihm sollte man ausgehen, denn er zählt nicht nur mehr Anhänger, sondern ist auch älter und einfacher als das Christenthum. Nichts ist überraschender und lehrreicher als die Vergleichung dieser beiden Religionen. Die Inder und die Juden hatten Das gemein, dass sie vorwiegend religiöse Völker waren, dass die Religion in einer Weise den Mittel- punkt ihres Lebens bildete wie nirgends sonst. Hier wie dort erschien ein Reformator, der sozusagen die Blüthe des religiösen Volksgeistes darstellte, den ver- borgenen Kern aus der harten Schale löste und durch Beseitigung der Schale auch anderen Völkern das Beste des indischen und des jüdischen Geistes geniessbar machte. Der Prinz Gautama, erzählen die Buddhisten, Digitized by Google 81 2. Drei Gespräche über Religion. wurde durch die Erkenntnis der menschlichen Ver- gänglichkeit und des menschlichen Elendes schwer- müthig. Er verliess Vater, Weib und Kind, Reichthum und Reich, um nach Erlösung zu suchen. Lange Jahre suchte er in den Lehren und Kasteiungen der Priester und der Büsser die Wahrheit und fand sie nicht. End- lich trat die Erleuchtung ein, und der Heilige erkannte, dass die selbstsüchtige Lust die Ursache des Leides ist, dass, wer auf dem rechten Wege sein Selbst über- windet, die Erlösung erlangt Diese Sätze enthalten eigentlich die ganze Religion Buddhas, und ihre er- habene Einfachheit ist unvergleichlich. In ihnen ist, wie mir scheint, für alle Zeiten das Wesen der Reli- gion ausgesprochen. Jeder wahrhaft religiösen Be- wegung, die die Welt gesehen hat, liegen sie zu Grunde, und alle Heiligen waren, mehr oder weniger, Erschei- nungen Buddhas. Paulus: Wenn man aber von dem Buddhismus spricht, so ist immer von Pessimismus, Quietismus, Atheismus die Rede. Philalethes: Die Ismusse beruhen theils auf Miss- verständnissen, theils auf Uebertreibung. In gewissem Sinne ist es eine Forderung a priori, dass eine Religion pessimistische Voraussetzungen habe. Sie muss von der Noth des Lebens ausgehen, denn ohne Noth kein Verlangen nach Seligkeit, keine Eriösung. Glückselige Menschen brauchen keine Religion. Doch ist dieser religiöse Pessimismus keine Lehrmeinung, noch gar eine Berechnung, um wie viel mehr Unlust als Lust in der Welt sei, sondern einfach ein Hinweis auf die Er- Möbius, Werke. VI. Digitized by Google 82 2. Drei Gespräche über Religion. fahrung. Dass von den buddhistischen Lehrern die Welt etwas arg grau in grau geschildert wird, Das ist ohne Wei- teres zuzugeben, trifft aber das Wesen der Sache nicht. Der Vorwurf des Quietismus ist in unseren Tagen eine gefähriiche Anklage, denn Dem wird leicht verziehen, der sein Leben zum Oeldverdienen verwendet. Dem aber niemals, der etwas Höheres kennt als die „natio- nale Kulturarbeit**. So wert wie ein buddhistischer Quietismus wirklich besteht, ist er ein Missbrauch. In den Heiligen Schriften wird von Dem, der sich zu Buddha bekennt, vielmehr unermüdliche Thatkraft ge- fordert. Der, der innerlich lebendig ist, weiss, dass auch ein beschauliches Leben ein Leben der Arbeit ist. Atheistisch ist Buddhas Lehre insofern, als „ein Gott, der nur von aussen stiesse", ausdrücklich abgelehnt wird und als der Oottesglaube nicht zum Wesen der Religion gerechnet wird. Doch würde die reine Lehre Buddhas der Gläubige eben so gut aufnehmen können wie der Ungläubige. Paulus: Nun erst sehe ich klar: Du bist ein Bud- . dhist. Philalethes: Durchaus nicht. Meine Meinung ist nur die, dass das wahre Wesen der Religion nirgends so klar und so einfach zu erkennen sei wie in der Lehre Buddhas. Es ist jedoch nicht zu verfangen, dass wir Buddhisten werden sollten. Der Buddhismus wurzelt, eben so wie das Christenthum im Judenthume, im indischen Geiste und ist mit eigenthümlich indi- schen Bestandtheilen durchsetzt, die vergänglicher Art sind. Ist Buddhas Lehre auch freier von metaphysi- Digitized by Google 83 2. Drei Gespräche über Religion. kaiischen Auffassungen als jede andere Religion, so ist sie doch nicht frei von ihnen. Dahin rechne ich die Karma-Lehre, ganz besonders aber die eigenthüm- liche Psychologie. Buddha bekämpft die Selbstsucht, be- schränkt sich aber nicht auf das Praktische, sondern kommt immer wieder auf die Darlegung zurück, dass es hinter den seelischen Zuständen kein selbständiges Ich gebe. Inwieweit die Bekämpfung des Atman selbst berech- tigt sei, kann man dahingestellt sein lassen; auf jeden Fall haben diese theoretischen Erörterungen keinen religiösen Charakter. Die indische Neigung zum „In- tellektualismus" berührt uns überhaupt vielfach fremd- artig. Durch das Metaphysikalische wird auch der Begriff des Nirwana getrübt. An vielen Stellen be- zeichnet Nirwana (Erioschen) den Zustand des Eriösten, in dem Begierde und Sorge erioschen ist, also Das, was die Christen den „Frieden Gottes" nennen. Ausser dieser religiösen hat aber das Wort auch noch eine metaphysische Bedeutung und bezeichnet den Zustand, in den der Fromme nach dem Tode eintritt. Du siehst aus diesen Andeutungen, dass ich nicht gesonnen bin, mich den „modernen Buddhisten" anzuschliessen. Paulus: Schön, ich nehme meinen Verdacht zurück. Entschuldige, dass ich Dich vom Wege abgelenkt habe. Eriösung durch Ueberwindung der Selbstsucht ist also nach Deiner Auffassung die Religion? Philalethes: In der That. Jedoch darf man nicht vergessen, dass diese Einsicht nicht in das Bewusst- sein des Religiösen einzutreten braucht. Es genügt, dass er ihr gemäss lebt, und thatsächlich ist sie so 6* Digitized by Google 84 2. Drei Gespräche fiber Religion. klar und deutlich wie in Buddhas Lehre bei den ande- ren Religionen nicht zu finden. Ich meine, man müsse sich die Sache folgendermaassen vorstellen. Kein lebendes Wesen kann in seinem Denken und Thun einen anderen Zweck verfolgen als seine Lust Alles kommt darauf an, woran man seine Lust findet Des Nachdenkens wichtigste Aufgabe ist jederzeit der Weg zum Glücke gewesen, bei praktischen Menschen sowohl wie bei philosophirenden. In der Praxis aber und eben so in der Philosophie zeigte es sich mit der Zeit, dass das Verfahren des natürlichen Menschen nicht zum Ziele führt. Die vergoldeten Nüsse sind hohl. Alles, worauf der Sinn des natürlichen Menschen zu- nächst gerichtet ist, Essen, Trinken, geschlechtliche Be- friedigung und Macht, es vermag das Herz nicht aus- zufüllen. Abgesehen davon, dass die irdischen Güter bald unerreichbar sind, bald verloren werden, ist unser Wesen derart, dass der Genuss ermüdet, und dass, obwohl das Verlangen nie erlischt, nach Erreichung unserer Wünsche die dauernde Befriedigung fehlt So erwächst die Sehnsucht nach einem Gute, das unab- hängig von Glück und Unglück ist, und das „Frieden und volles Genügen" gewährt. Wider Erwarten wird dieses Gut gefunden, wenn der Wille sich wendet, wenn das Ich, dem bis dahin alle Sorge galt, vergessen wird. Sicher ist diese Wahrheit zunächst durch Er- fahrung, nicht in Begriffen erworben worden. Man erfuhr an seiner Person, dass die „Hingebung** be- glückt, sei es die an einen geliebten Menschen, sei es Digitized by Google ^ 85 2. Drei Gespräche über Religion. die an einen Herrn, an die Gemeinde und das Vater- land, an eine Idee. Paulus: Diese Hingebung ist aber doch nicht Re- ligion. Philalethes: In gewissem Sinne doch, wie wir denn auch von Einem sagen, der sich bei einer Sache ganz vergisst, er diene seiner Sache mit religiösem Eifer. Religion ist die prinzipielle Hingebung, das grund- sätzliche Aufgeben, Vergessen, Beiseiteschieben des Ich. Jede Religion stellt die Regeln auf, denen gemäss man leben soll, und die oft sehr unpassend religiöse Moral genannt werden. Die Regeln, die nach religiöser Vor- schrift den Weg zur Seligkeit bilden, haben mit der Moral, dem Herkommen direkt nichts zu thun. Sie werden mit „Du sollst" eingeleitet, und man hat diese Form missverstanden, bestritten, verspottet. Aber sie bedeutet weder Das, dass sie eine absolute Forderung — d. h. ein Unsinn — sei, sondern das „Du sollst" heisst einfach, „Das und Das musst Du thun, wenn Du selig werden willst", es ist der Wegweiser für den Heilsweg mit befehlendem Zeigefinger. Also: die Regeln der Religion gelten für Jedermann und jede Zeit; die weltliche Hingebung ist von Zeit, Gelegenheit und individuellen Verhältnissen abhängig, die religiöse um- fasst das ganze Leben und sieht von allen Einzelver- hältnissen ab. Paulus: Sollte Deine Auffassung nicht doch ein mehr theoretischer Aufbau sein? Mir scheint, dass ihr nicht nur die allgemein geltende Deutung des Begriffes Digitized by Google 86 2. Drei Gespräche über Religion. der Religion widerspricht, sondern auch der Inhalt der gegebenen Religionen. Philalethes: Du darfst nicht vergessen, dass das Wirkliche nicht mit bewusster Einsicht hergestellt wor- den ist, dass unsere menschlichen Einrichtungen offen- bar unbewusst entstanden sind. Man hat sich tastend fortbewegt, überall ist Neues und Altes, Richtiges und Falsches vermischt Wollen wir klar sehen, so müssen wir tiefer einzudringen suchen; doch heute reicht die Zeit dazu nicht Ist es Dir recht, so treffen wir uns morgen wieder. Paulus: Von Herzen gem. Besonders wünsche ich, zu erfahren, wie sich Dir unsere christliche Reli- gion darstellt Philalethes: Also auf morgen! Digitized by Google 87 2. Drei Gespräche über Religion. III. Paulus: Willkommen, alter Freund! Seit gestern bewege ich Deine Lehren in meinem Herzen, ohne doch zur Klarheit kommen zu können. Spielt nicht in unserer Religion das persönliche Verhältniss zu Gott die erste Rolle, und bleibt Etwas von ihr übrig, wenn der Gottesglaube als entbehriich angesehen wird? Philalethes: Wir werden da auf das Geschichtliche eingehen müssen. Eine der merkwürdigsten That- sachen ist die siegreiche Ausbreitung des Christen- thums. Wie war sie möglich? Man kann, glaube ich, nur antworten: Das Christenthum siegte, [weil es die Menschen beseligte, weil es ihnen eine Lust gewährte, die sie auf andere Weise nicht erlangen konnten, und die ihnen als so gross erschien, dass alles weltliche Glück und das Leben selbst daneben ihren Werth ver- loren. Die Frage würde also lauten: Wodurch be- seligte das Christenthum die Menschen? Paulus: Die landläufige Antwort geht dahin, dass die Hoffnung auf die jenseitige Herrlichkeit die Lock- Digitized by Google 88 2. Drei Gespräche über Religion. speise war. Die Christen waren selbst dieser Mei- nung, wie der Apostel Paulus sagt (1. Kor. 15): „Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christum, so sind wir die elendesten unter allen Menschen." „Was hülfe mirs, so die Toten nicht auferstehen? ,Lasst uns essen und trinken: denn morgen sind wir todf." Philalethes: Der Apostel war mehr Theologe als Psychologe und thut sich in den angezogenen Worten grosses Unrecht. Es liegt hier ein Beispiel von Irr- thum über das Motiv vor, einem der Irrthümer, von denen die Geschichte der Religion wimmelt. Erieben und bewusst Erfassen sind überall Zweieriei. Wie könnte man annehmen, dass die Apostel und die Blut- zeugen der Kirche nur in Rücksicht auf eine Beloh- nung nach dem Tode gehandelt hätten? Der Mensch wird an eine vorgespiegelte Zukunft niemals Gut und Leben setzen, er thut es für die Religion, weil sie ihm ein gegenwärtiges Gut ist, weil er ihren Segen nicht erwartet, sondern wahrnimmt, so zu sagen schmeckt und fühlt. Weil das Glück, das er in der Religion findet, grösser ist als jedes andere ihm bekannte, des- halb opfert er ihr alles Andere. Auch der Apostel Paulus konnte nur deshalb so leben, wie er gelebt hat, weil er in der Religion seine Seligkeit schon ge- funden hatte, nicht erst sie von einer unbestimmten Zukunft erwartete. Paulus: Das scheint mir richtig zu sein. Aber nun antworte selbst auf Deine Frage. Philalethes: Ich möchte mit der Verneinung be- Digitized by Google 2. Drei Gespräche über Religion. ginnen. Der Erfolg des Christenthums lag nicht in seiner Metaphysik. Der Apostel Paulus, auf den ich zurückkomme, weil er das junge Christenthum nicht nur vertritt, sondern fast es selbst ist, erblickt den Kern seiner Lehre in der Verkündung der Auferstehung Jesu von Nazareth. Wäre ein Grieche von der That- sächlichkeit der Auferstehung überzeugt worden, so hätte er zunächst darin nur ein höchst merkwürdiges Naturereigniss sehen können. Anders fasst der Apostel die Sache auf; mit einer wunderiichen Pharisäer-Theo- logie knüpft er an das fragliche Ereigniss seine Lehre von der Rechtfertigung, und dieses unerquickliche Ge- spinnst hält er für das eigentlich WerthvoUe, das er den Römern zu geben hat. Es ist bekanntlich sehr schwer, sich von den überkommenen Meinungen ganz frei zu machen, und selbst der kühnste Neuerer pflegt mehr vom Alten zu bewahren, als er denkt. Der Apostel lehrt: nur der Glaube an den auferstandenen Christus bringt das Heil; im Uebrigen aber hält er an seinen früheren jüdischen Ansichten ganz fest. Dass die jüdisch-christ- liche Metaphysik die alte Welt überwunden habe, das ist ein geradezu absurder Gedanke. Thatsächlich wurde sie mit in den Kauf genommen, weil etwas Anderes die Herzen bezwang. Sie galt für die Hauptsache, war es aber nicht, — und so ist es während der ganzen Geschichte der Kirche geblieben. Die Metaphysik, d. h. das Dogma, spielte die erste Rolle, ja, schien oft Alles zu sein, obwohl das Andere allein der Kirche das Leben erhielt und in der Stille wirkte. Paulus: Ja, was war denn nun „das Andere?" Digitized by Google 90 2. Drei Gespräche über Religion. Philalethes: Es war der religiöse Geist des Juden- thumes. Er ist der Sieger. Paulus: Wie meinst Du Das? Philalethes: Im Judenthume bildete, ähnlich wie bei den Indem, die Religion den Mittelpunkt des Lebens. Alles drehte sich darum, dass der Wille Gottes ge- schehe. Die Verwirklichung des Reiches Gottes ist das Ideal des frommen Juden. Als reinste Blüthe des jüdischen Geistes steht Jesus .von Nazareth vor uns; er lehrte ja eigentlich nichts Neues, sondern verklärte nur durch Wort und That seines Volkes Geist. Im Judenthume aber war die Religion gebunden und ver- hüllt durch das Gesetz. Erst, als in der Entstehung des Christenthums der jüdische Geist diese Puppe verliess, konnte er sich frei entfalten und auf die Welt wirken. Zum Glücke besitzen wir in den Briefen des Apostels Paulus die geschichtlichen Belege, und des- halb sind wir über diesen Vorgang besser unterrichtet als über sehr viele andere historische Entwickelungen. Als der Apostel zu der Ueberzeugung gekommen war, dass das mosaische Gesetz nicht festgehalten zu werden brauche, bestand seine Predigt in der Verkündigung von dem auferstandenen Christus und aus den Lehren jüdischer Frömmigkeit Diese waren für ihn nichts Neues; er selbst sagt, dass er von Niemand Lehre an- genommen habe, nachdem ihm auf wunderbare Weise die Ueberzeugung von der Auferstehung Christi bei- gebracht worden war. Es ist also von einer „christ- lichen Moral" gar keine Rede: die giebt es gar nicht. Alle Verhaltungsmaassregeln, die das Neue Testament Digitized by Google 91 2. Drei Gespräche über Religion. enthält, sind der Ausdruck jüdischer Frömmigkeit, und auch der Apostel Paulus trägt, so weit er sich nicht in theoretischen Auseinandersetzungen ergeht, einfach Das vor, was er als frommer Jude für das Richtige hält. Das Praktische ist ihm sozusagen selbstverständ- lich, und er legt das Hauptgewicht, als auf das für ihn Neue, auf seine metaphysischen Lehren. Für uns, die wir zurückblicken, kann es gar kein Zweifel sein, dass der Erfolg der ersten Christen, der trotz der Enttäu- schung über das Ausbleiben des wiederkehrenden Mes- sias zu wachsen fortfuhr, von ihrem frommen Verhalten abhing, nicht von ihren Ansichten über die Dinge im Himmel. Der Bekehrte wurde selig, weil er „einen neuen Menschen anzog**, und sein Verhalten überzeugte die Anderen, dass doch Etwas an der Sache sei. Die Theorie wurde hier wie anderswo für das Wichtige gehalten, war es aber nicht. „Denn das Reich Gottes steht nicht in Worten, sondern in Kraft« (1. Kor. 4, 20). ^ Paulus: Du drückst Dich etwas unbestimmt aus. Man unterscheidet gewöhnlich Ceremonial- und Sitten- gesetz. Jenes falle im neuen Bunde weg, dieses bleibe in Kraft. Philalethes: Da das „Gesetz" das ganze Leben des jüdischen Volkes regelte, so ist es begreiflich, dass die Bestandtheile sehr verschiedener Art sind. Auch von dem sogenannten Sittengesetze hat nur ein Theil religiöse Bedeutung. Das eigentlich Wichtige sind nicht einzelne Vorschriften, sondern die fromme Ge- sinnung ist es. Durch sie wird der Mensch excen- trisch, er veriegt seinen Mittelpunkt ausser sich. Nicht Digitized by Google 92 2. Drei Gespräche über Religion. sein Gewinn, seine Ehre ist ihm nun die Hauptsache, sondern Gottes Wohlgefallen. Wenn ich Dich nur habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde, singt der Psalmist. Der Apostel sagt: „Ich lebe aber, doch nun nicht ich, sondern Christus lebet in mir „(Gal. 2,20). Die Christen legen den Ton auf „Christus", ich meine, es komme auf das „nicht ich" an. Wer von sich sagen kann, dass er nicht mehr sich selbst lebe, Der ist fromm, mag das Positive Dieses oder Jenes sein. Die Frömmigkeit in diesem Sinne wuchs Jm Juden- thume wie eine Knospe, entwickelte sich zur Blüthe im Christenthume, sie war das starke Neue für die grie- chisch-römische Welt, sie siegte. Paulus: Ich gestehe, dass mir Deine Auffassung gefällt. Philalethes: Die Kraft des Christenthums war ein Geheimniss, nur Die konnten sich von ihr überzeugen, die in das Innere hineingedrungen waren. Die aussen Stehenden sahen nur den jüdischen Aberglauben, der den Mantel bildete, und ihnen musste die ganze Be- wegung als unangenehm und räthselhaft erscheinen, wie wir es z. B. bei Tacitus sehen. Paulus: Immerhin wirst Du zugeben müssen, dass die Verweisung auf das Jenseits eine wichtige Rolle spielte. Philalethes: Das will ich durchaus nicht leugnen. Sehen wir doch auch heute, dass Dem, der an ein Wiederfinden im Himmel und an eine ausgleichende Gerechtigkeit glauben kann, aus diesem Glauben ein Digitized by Google 93 2. Drei Gespräche über Religion. siegreicher Trost erwächst Jedoch ist der Unsterblich- keitglaube dem Christenthume nicht eigenthümlich; er war in der alten Welt weitverbreitet, — stammt doch auch der jüdisch-christliche Glaube an die Auferstehung aus Persien, die Germanen glaubten an Walhall, und so fort. Ueberdem hat der christliche Himmel für den natüriichen Menschen weniger Anziehung als die an- deren Vorstellungen vom Jenseits. Ich möchte daher in der Lehre von den letzten Dingen, die freilich in der Bekehrungspredigt den grössten Raum einnimmt, nur ein Hilfmotiv sehen. Man darf überhaupt nicht verkennen, daß die werbende Kraft der christlichen Lehre vielfach war. Wenn auch nicht in der Verkün- digung des Paulus, so trat doch später mit der Ver- breitung der Evangelien die rührende Gestalt des Er- lösers, sein Leben und sein Wort, in den Vordergrund und warb mit persönlicher Kraft. Eben so wenig unterschätzeich die Bedeutung des Gedankens an einen liebenden Gott gegenüber den mehr oder weniger .gleich- giltigen und hochnäsigen Göttern des Alterthums und der barbarischen Völker. Das aber das eigentlich Durch- schlagende nicht das Dogma war, sondern die Erfah- rung, ein frommes Leben mache glücklich: Dies an- zunehmen, bestimmt mich, abgesehen von psycholo- gischen Erwägungen, der Hinblick auf den Siegeslauf des Buddhismus. Paulus: Da wären wir glücklich wieder bei Buddha. Philalethes: Nun, ja freilich. Paulus: Ich habe gestern Abend über den Buddhis- mus nachgelesen, und mir scheint, dass da auch Theorie Digitized by Google 94 2. Drei Gespräche über Religion. und Praxis verschieden sind. So weit der Buddhis- mus lebendig ist, scheint die „reine Lehre" überall mit dem Glauben an Götter, und zwar meist mit recht abergläubischem Glauben, durchsetzt zu sein. Diese Betrachtung führte mich auf den Gedanken, dass die Menschennatur selbst neben dem Negativen ein Posi- tives fordert, neben der Entsagung, die die alten Lebens- zwecke unbrauchbar macht, einen neuen Lebensinhalt. Auch da, wo der Mensch zum Theil Entsagung übt, als Vater, als Freund, als Glied des Volkes, da entsagt er nicht, um zu entsagen, sondern um der Anderen willen. Wie wäre die prinzipielle Hingebung, um Deinen Ausdruck zu brauchen, möglich, ohne dass ein An- deres „um — willen" einträte? Nun kann aber nur das Höchste diese Stelle einnehmen, das Höchste aber in jedem Sinne nennen wir Gott Der Fromme thut Das, was er thut, „um Gottes willen". Gott ist also doch unentbehrlich. Philalethes: Ich gebe Dir ohne Weiteres Recht, so weit wie das historische Argument reicht Indes- sen dürfte es doch eine Stufe geben, auf der das Positive entbehrt werden kann. Paulus: Eben Das bestreite ich. Denn wir müssen Folgendes überiegen. Buddha sagt: Der auf dem rech- ten Wege sein Selbst Ueberwindende erlangt Eriösung. Warum soll der Mensch sein Selbst überwinden? Be- folgt er die Lehre, ohne nachzudenken, aus Gehorsam, nachahmend, so erlangt er die Wirkung allerdings. Fragt er aber nach dem Grunde, so entsteht die Ge- Digitized by Google 95 2. Drei Gespräche über Religion. fahr, dass die psychologische Einsicht den Gewinn zerstöre. Denn sobald er sich zu seinem eigenen Besten überwinden will, fällt er in die bewusst egoistische Art zurück. Auch ist ja dann das Ziel und die Ueber- windung um des Ich willen eben so wenig befreiend wie sonst ein Ich-Streben. Philalethes: Hm, — indessen die Erfahrung zeigt doch, dass eben die Sorge um das Heil der Seele das religiöse Motiv ist Paulus: Du selbst hast sehr richtig, als wir vom Apostel Paulus sprachen, auf den Irrthum über das Motiv hingewiesen. In Wahrheit gehen die Dinge wohl so vor sich, dass der Mensch wie zu seinen Künsten und zu seinen Tugenden so zum religiösen Leben durch seine Natur getrieben wird, daß er bei glücklicher Organisation instinktmäßig das Rechte ergreift und erst hinterher Gründe für sein Handeln sucht. Wäre die Sorge um das Heil der Seele allein vorhan- den, sie erreichte nie die Stärke, die natüriichen ego- istischen Antriebe zu überwinden. Thatsächlich ist die Selbstüberwindung nur dann möglich, wenn der Mensch von Natur so reich an Liebe ist, dass dieser Trieb die Vorherrschaft eriangt. Philalethes: Aber mein Bester, wenn Du den Men- schen ganz zum Triebwesen machst, so wird die reli- giöse Lehre ja ganz überflüssig. Paulus: So meine ich es denn doch nicht. Der Mensch ist eben ein Doppelwesen, er handelt theils aus Instinkt, theils nach Zwecken. Die Entwickelung 13 Digitized by Google 96 2. Drei Gespräche über Religion. geht dahin, das bewußte Leben mehr und mehr zu steigern. Daran ist nichts zu ändern, wir müssen von der Unschuld durch Zweifel und Fehlgriffe zur Tugend. So muss auch die unbewusste Religiosität zur bewuss- ten werden, und die falschen Motive gehören nur dem Uebergange an. Wir können gar nicht anders, wir müssen Motive für das Handeln aufstellen, und es kommt nur darauf an, dass wir die rechten finden. Philalethes: Das rechte religiöse Motiv also wäre? Paulus: Alles um Gottes willen zu thun oder aus Liebe zu Gott. Philalethes: Dann aber sitzen wir wieder in der Metaphysik und die erste Frage lautet: Was ist Gott? Paulus: Nenne es Metaphysik oder anders, auf den Namen kommt nichts ian. Im Grunde ist Das, was ich sage, nur die Uebersetzung der unbewussten Religiosität in das Bewusste. Selbstverieugnung und Mitgefühl sind nur die zwei Seiten derselben Münze. Dieses ist, in Begriffe übersetzt, die Erkenntnis, dass wir Eins mit den Anderen sind, jene ist der Folgesatz, dass die Beschränkung auf das Ich eine Täuschung ist. Die durchgehende Selbstverieugnung setzt auch das durchgehende Mitgefühl voraus, die Erkenntniss, dass wir Eins sind mit allen Wesen, mit der Welt. Daraus ergiebt sich ohne Weiteres, dass wir uns in der Welt wiederfinden müssen, dass Das, was unse- ren Kern bildet, auch im Herzen der Welt wiederzu- Digitized by Google 97 2. Drei Gespräche über Religion. finden sei, dass somit ein Oott — in diesem oder jenem Sinne -— vom religiösen Gefühle gefordert werde. Philalethes: In diesem Sinne freilich, alter Freund, möchtest Du Recht haben. Doch kommt die Nacht herauf, wir müssen enden. Paulus: Auf Wiedersehen! Möbius, Werke. VI. Digitized by Google Digitized by Google III. lieber die Veredelung des mensch- lichen Geschlechtes. Digitized by Google Digitized by Google 101 3. Uebei die Yeredehiic de$ «emchUdi^ Qc«cblcdites. IIL Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. Wie wunderlich die Menschen sind, das sieht man auch an ihren gemeinsamen Bestrebungen. Wenn das Wohl des Einzelnen in Frage kommt, so herrscht be- greiflicherweise der Eigennutz, aber über das, was allgemein erstrebenswerth sei, sollte man ein unbe- fangenes Urtheil erwarten, indessen zeigt die Ge- schichte, dass zumeist Ziele verfolgt worden sind, die es nicht recht werth waren. Kirchliche oder politische Interessen haben immer im Vordergrunde gestanden. Ganze Völker haben sich aufgeregt, haben gewuthet, gemordet und gebrannt wegen spitzfindiger Dogmata. Zumeist hat die Politik die Geister beherrscht. Auch jetzt scheinen den Meisten die Hauptfragen die zu sein, ob der Staat diese oder jene Gestalt habe, ob dieses oder jenes Reich bestehe, obwohl das doch Dinge sind, die nur ganz vorübergehende Bedeutung haben. Dagegen hat die Frage kaum Beachtung ge^ funden, auf welche Weise das menschliche Geschlecht veredelt werden könne, obwohl sie im Grunde die wichtigste ist. Wie man die Menschen moralisch besser Digitized by Google 102 3. lieber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. machen könnte, das ist freilich vielfach erörtert worden, aber man muss sich doch sagen, dass die Moralität nur eine Seite des Menschen ist, und dass einseitige Bestrebungen ihre Bedenken haben. Wie die Menschen glücklicher werden könnten, das ist freilich immer ge- fragt worden, und gerade jetzt scheint es die Haupt- frage zu sein, da die socialistischen Erörterungen mehr und mehr das Uebergewicht gewinnen. Aber die nähere Ueberlegung ergiebt denn doch, dass die Glück- seligkeit nicht das Erste sein kann. Am glücklichsten sind die Thiere, man müsste also einen thierähnlichen Zustand erstreben. Jedoch Jeder sagt sich, dass das nicht in der Natur der^Dinge liegt, dass im Gegentheile die ganze Entwickelung nach einem anderen Ziele drängt. Die Naturbetrachtung macht es wahrschein- lich, dass sich das organische Leben auf der Erde entfaltet habe, wie eine Pflanze wächst. Aus relativ einfachen Anfängen entwickelt sich ein unerwarteter Reichthum von Organen, und immer höhere, künst- lichere Gebilde entstehen. Im unendlichen Reichthume sowohl des Pflanzen- wie des Thierreiches sind offen- bar die höherentwickelten Arten am spätesten ent- standen. Man kann also sagen, dass [höhere Arten das Ziel der Entwickelung gewesen seien. Viele stellen sich vor, dass wir noch in dieser Entwickelung mitten drin seien. Indessen ist es doch wahrscheinlicher, dass das organische Reich in der Hauptsache erwachsen sei, dass die Artbildung im Grossen und Ganzen längst aufgehört habe. Jedes Einzelwesen bildet sich ver- hältnissmässig rasch und bleibt dann während des Digitized by Google 103 3. Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. grösseren Theiles seines Lebens im Wesentlichen unver- ändert. Man kann vermuthen, dass es mit dem Oanzen nicht anders sei, dass, wie manche Naturforscher sagen, die Ontogenese die Phylogenese recapitulire. Wenn wir also nicht mehr die Bildung neuer Arten zu er- warten haben, so liegt es doch am nächsten, den Zweck in der Vervollkommnung der vorhandenen Arten, vor allem also des Menschen zu sehen. Man hat wohl auch als Ziel der menschlichen Entwickelung die Steigerung der Cultur bezeichnet, indessen ist dieser Ausdruck nicht eindeutig, da man objective und sub- jective Cultur trennen kann. Zur objectiven Cultur könnte man rechnen die Bewohnbarmachung der Erde durch Beseitigung der natürlichen Gefahren, durch Entwickelung der Verkehrswege u. s. w., femer die Er- zeugung objectiver Wissenschaft, wie sie in grossen Bibliotheken aufgehäuft ist, die Schaffung von Kunst- werken und Anderes. Man darf wohl annehmen, dass in Wahrheit die Steigerung der objectiven Cultur von grosser Bedeutung in der Entwickelung der Erde sei, jedoch ist offenbar das Wachtsthum der subjectiven Cultur, d. h. die Vervollkommnung des Menschen, das Wichtigere schon deshalb, weil der Werth der objec- tiven Cultur von der subjectiven abhängt, weil je mehr sich ein Mensch dem idealen Menschen nähert, und je mehr Menschen es thun, um so eher und um so rascher die objective Cultur gesteigert werden wird. Wir dürfen also als wichtigstes Ziel der natür- lichen Entwickelung die Vervollkommnung des Men- schen ansehen. Ist dies aber so, so wird es für uns Digitized by Google 104 3. Ud>cr dk Vercdeliin^ des meaeddidieii OctcMcdites. das Vemönfttgste sein, den Naturzweclc zu dem unseligen zu macbai, das bewusst zu fördern, wozu wir unbewusst geführt werden. In religiöser Sprache würde das heissen, den Willen Gottes zu thun, denn dieser und das Ziel der natüilichen Entwickelung müssen dasselbe sein. Es klingt zwar wunderlich, wenn man sagt, die Veredlung der menschlichen Rasse ist Gottes Wille, aber der Ausdruck ist vielleicht besser, als man denkt Man hat zwar immer gepredigt, Gott wolle, dass die Menschen sich bessern, aber ich mein^ Gott will nicht nur, dass der Mensch gut sei, sondern auch, dass er gesund, schön, stark, geschickt sei. Man kann auch sagen, das Ziel ist die Bildung des harmo- nischen Menschen, die Steigerung aller menschlichen Vorzüge. Bildung aber ist hier nicht nur im Schul- meister-Sinne gebraucht, sondern in dem Sinne von Erzeugen, im Sinne des schaffenden Künstlers. G^en diese beiden Forderungen hat man zumeist gefehlt, man hat nur einzelne Eigenschaften des Menschen gefördert, und man hat sich'nur an den schon geborenen Menschen gewendet. Die geistlichen Bestrebungen gingen aus- schiiesslkrh auf Läuterung des inneren Menschen aus: Eins istNoth. Körperliche Vorzüge, Wissen und Geschicklich- keit schienen eher Hindemisse auf dem Wege zu sein. Die weltikhe Erziehung hatte beschränkte Ziele, bald wollte sie kräftige Kri^er haben, bald kenntnissreiche Beamte, bald fügsame Bauern u.s.w., an dem harmo- nisch gebikleten Menschen lag ihr nichts. Beide aber, Kirche und Staat, kümmerten sk:h nur um die Formung der Menschen, die ihnen von der Familie geliefert Digitized by Google 105 3. Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. wurden, überliessen die Zeugung des Menschen ganz oder fast ganz der Willkür. Darin li^ der erste Fehler, denn der Mensch kommt als bestimmtes Indi- viduum zur Welt, alle wesentlichen Eigenschaften bringt er mit, und der Erfolg der Erziehung ist im Grossen und Ganzen recht unbedeutend. In gewissem Grade haben Sitten und Ehegesetze, bewusst oder unbewusst, Im Sinne der Züchtung gewirkt. Rassenhass, Familien- Hochmuth und Habsucht sind wohl die wichtigsten Motive. So entstanden Kasten, Stände, die mehr oder weniger streng abgegrenzt waren. Das wichtigste Unternehmen ist die Einrichtung des Adels in den christlichen Ländern. Dies ist der einzige im Grossen unternommene und durch lange Zelt fortgeführte Züchtungsversuch. Drei Maassregeln kommen hauptsächlich in Betracht: das Verbot un- ebenbürtlger Heirathen, das Verbot unangemessener Berufsthätigkeit und der Zwang zu einer bestimmten Erziehung. Ermöglicht wird alles dies erst durch das Vorhandensein auskömmlichen Vermögens, daher armer Adel eigentlich ein Widerspruch ist und auf die Dauer nicht bestehen kann. Das Ergebniss der Adels-Züchtung kann man Im Allgemeinen als befrie- digend bezeichnen, denn es ist nicht zu leugnen, dass die Adligen im Ganzen den Nicht-Adligen Im Ganzen gegenübergestellt als eine zweifellos höher entwickelte Menschenklasse erscheinen, sowohl in kör- periicher wie in geistiger Beziehung. Wir finden höhe- ren Wuchs, Ebenmaass der Glieder, breite Brust, lange Beine, schlanke Glieder im Allgemeinen, besonders Digitized by Google 106 3. Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes« kleine wohlgebildete Füsse und Hände mit schönen Nägeln, zierlichen kleinen Kopf, weiches Haar, scharf- geschnittene „edle" Züge. Dem entspricht (ich rede hier natüriich nur im Allgemeinen) das Geistige: starke Urtheilskraft, gutes Oedächtniss, energisches Wollen. Als Haupteigenschaften sind zu betrachten instinctive Abneigung gegen alles Kleine, Enge, Niedrige, Ge- meine, Unsaubere, Hässliche, bezw. die positiven Nei- gungen, einerseits, durch Vernunft beherrschte Ener- gie andererseits. Das starke vernünftige Wollen zeigt sich durch bedingungslose Unterordnung unter das als vemunftgemäss Erkannte oder Hochgeschätzte, als Tapferkeit, als Selbstbeherrschung unter allen Umstän- den. Man kann nicht verkennen, dass die adlige Eigen- art eine gewisse Einseitigkeit hat. Das liegt offenbar in den historischen Verhältnissen. Der christliche Adel ist in erster Linie Kriegsadel, es mussten daher be- sonders die im Kriege und die für den Befehlshaber nötigen Eigenschaften gezüchtet werden, das Harte und Scharfe mußte bevorzugt werden. Das führte natüriich zu gewissen Mängeln hier, zu gewissen Ueber- treibungen dort. Productivität des Geistes, künstleri- sche Fähigkeiten, Geduld, Milde, Nachsicht waren Eigenschaften zweiter Ordnung. Hartherzigkeit, Heftig- keit, Unbedenklichkeit, Hochmuth, Prunksucht mussten als duldbare Nebenproducte angesehen werden. Auch im Körperiichen giebt sich die Einseitigkeit des Kriege- rischen kund, wie es der unter den Adligen ungemein verbreitete Raubvogel-Typus darthut. Vielleicht wäre Manches anders geworden, wenn nicht von vornherein Tl Digitized by Google 107 3. Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. die Priesterkaste abseits gestanden hätte, wenn die Priester und die Gelehrten aus dem adligen Stande hätten hervorgehen müssen. Nun könnte Jemand ein- wenden, es handle sich beim Ade! gar nicht um Züch- tung neuer Eigenschaften, sondern nur um Bewahrung, die Adligen seien eine von vornherein von den Bauern verschiedene Krieger-Rasse, die vermöge ihrer Lebens- regeln die Eigenschaften ihrer Vorfahren bewahrt habe. Indessen trifft der Einwand nicht das Richtige, denn wir können doch recht oft nachweisen, dass es mit dem Rasse-Unterschiede nichts ist, dass in historischer Zeit, ja zum Theile unter unseren Augen die adligen Eigenthümlichkeiten entstehen, und dass sie verioren werden können. Viele Geschlechter sind dadurch ent- standen, dass der Ahnherr durch Zufall oder Verdienst den Adelstand erwarb. Viele Kriegsknechte, die zum Ritter geschlagen wurden, mögen rechte „Rauhbeine" gewesen sein; Manche wurden adlig, weil sie dem Fürsten zu rechter Zeit Geld vorstreckten oder sich sonstwie Anerkennung erwarben. Am überraschend- sten sind die Zuchtvorgänge in der bürgeriichen Ge- sellschaft, die wir selbst beobachten können, und die nicht grundsätzlich von der Adels-Züchtung verschie- den sind. Der Grossvater ist vielleicht ein Fabrikant, der sich dazu vom Arbeiter heraufgearbeitet hat. Er ist breit untersetzt, hat grobe Züge, hartes Haar, dicke rothe Hände; das Geld ist ihm Alles. Die Enkel sind schlank, mit feinen Zügen und weichem Haar, zarten Händen, widmen sich der Kunst oder der Wissen- schaft Digitized by Google 108 3. lieber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. Wenn man bedenkt, dass die Adelszüchtung durch Jahrhunderte fortgesetzt worden ist, und wenn man nun die Wirklichkeit ins Auge fasst, so erscheint einem freilich das Ergebniss als relativ gering. Jedoch darf man nicht vergessen, dass von einem bewussten Stre- ben nach Vervollkommnung der menschlichen Art da- bei eigentlich nicht zu reden ist, dass vielmehr in der Hauptsache nur eigensüchtige und mehr oder weniger unüberlegte Bestrebungen in Betracht kommen, dass andererseits viele zerstörende Einflüsse den Fortgang zum Outen gehemmt oder das schon Erreichte ver- dorben haben. Nur auf einige dieser schädlichen Einflüsse sei hingewiesen. Je höher der Rang eines Menschen wird, um so kleiner wird der Kreis der Ebenbürtigen, um so schwieriger die Ehe-Wahl. Es ist daher begreiflich, dass bei den regirenden Ge- schlechtern leicht Inzucht vorkommt An sich ist diese nicht schädlich, ja die Oeschwisterehe ist an sich un- bedenklich, wie die Seleuciden und die Ptolemäer be- weisen. Aber eine höchst bedenkliche Sache ist die Inzucht immer, denn geringe Abweichungen vom Nor- malen werden multiplicirt, und die einmal vorhandene Entartung steigt rasch zu den höchsten Graden. Wich- tiger als die Inzucht ist der Krieg, denn er „zerstört die Besten". Er rafft die Stärksten, Tapfersten, Muthig- sten weg, lässt die Schwächeren und weniger Muthi- gen übrig. Aehnlich wirken andere Katastrophen. Das entsetzlichste Beispiel ist die französische Revolution, in der das wahnsinnige Volk sich sozusagen den Kopf abgeschlagen hat, indem es seine edelsten Individuen er Digitized by Google 109 3. Ueber die Vereddung des menschlidien Ocschlechtes. vernichtete. Die Uebrigbleibenden, die Vorsichtigen, die bei Zeiten geflohen waren oder sich versteckt hatten, waren sicher nicht die Besten. Eine Krieger-Kaste ist überhaupt den grössten Gefahren ausgesetzt, auf der einen Seite dem Kriege und seinen Verwandten, auf der anderen dem Müssiggange und seinen Folgen. Schlimmer noch als der Krieg hat der Müssiggang unter dem Adel gehaust. Jede Gesellschaft ohne Ar- beit geht zu Grunde. Wenn aber jede Arbeit ausser der kriegerischen für unanständig gilt, so muss in Friedenszeiten der Müssiggang die Leute umbringen. Zunächst wird das Spiel zur Hauptsache. Das Leben einer Hofgesellschaft z. B. ist nur Spielerei, der Kern besteht aus geselligen Vergnügungen und anderen Albernheiten, und damit der Brei nicht zusammenfliesst werden die Schranken der Etikette errichtet, die im Grunde auch nur Spielerei sind. Natüriich leidet das Gehirn dabei. Eine unausbleibliche und sehr bedenk- liche Wirkung des Spiel*Lebens ist die, dass das natür- liche Verhältniss der Geschlechter verschoben wird, dass das Weib zu einer Bedeutung gelangt, die ihm nicht zukommt. Die christlich-germanische Weiber- Verehrung, die aus dem Müssiggange der Kri^w ent- standen ist, hat sich bitter genug gerächt. Ueberall da, wo das Weib zum Mittelpunkte der Gesellschaft wird, treten zwei Erfolge ein: die Gesellschaft entartet und das Weib entartet. Das Weib hat im Grunde nur geschlechtliche Interessen, alles Nichtgeschlecht- liche bildet nur Hilfsmomente, Mittel oderSpass. Herrscht das Weib, so herrschen seine Interess«i, d. h. es giebt Digitized by Google 110 3, Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. keinen Ernst mehr, keine Sachlichkeit Der „Salon" ist der Tod aller Tüchtigkeit Das „geistreiche Ge- spräch" des Salons zeigt so recht, wohin der Feminis- mus führt; die Sache ist gleichgültig, man spricht, um zu gefallen, um die Zeit todtzuschlagen, um leichte geschlechtliche Reizungen auszuüben. Tritt das Weib in den Vordergrund, so macht auch die Literatur banke- rott Man sehe unsere schöne Literatur an : sie ist in der Hauptsache nichts als eine Verherriichung des Geschlechtstriebes, von Weibern für Weiber. Nicht am wenigsten leidet das verschrobenene Weib selbst, es vertiert die Lust und mit der Zeit die Fähigkeit zur Fortpflanzung. Die Liebesangelegenheiten, die eigent- lich nur um der Kinder willen da sind, werden „Selbst- zweck". Man glaubt den Werth des Weibes durch An- regung der Gehimthätigkeit zu erhöhen, erreicht damit nichts, schädigt aber die Fähigkeit der Reproduction. Zu dem Nichtsthun und der Damen -Wirthschaft kom- men die verderbenden Vergnügungen dazu: Trunk, Spiel, Dirnen -Wirthschaft. Diese drei sind immer die Teufel der jungen Reichen gewesen und damit ganz besonders des Adels. Ein junger Mann, heisst es, müsse „das Leben geniessen", sich ausleben oder aus- tollen, d. h, sich in allen Lastern wälzen, soweit wie es die Ritter-Ehre erlaubt Es ist ein wahres Wunder, dass die officiellen Laster den Adelstand nicht noch mehr ruinirt haben, als sie es gethan haben. Wo wir leibliche und geistige Verkrüppelung finden, da wer- den in neun von zehn Fällen der Alkohol und die venerischen Krankheiten ihr Werk gethan haben. Es Digitized by Google 111 3. Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. ist eine traurige Sache, wenn man sieht, wie schöne junge Menschen mit den trefflichsten Anlagen, die zu allem Outen fähig wären, nur dadurch, dass sie nach Art ihrer Standesgenossen leben, jämmeriich zu Grunde gehen. Der eine betrinkt sich |und wird dann todt* geschossen, weil die „Ehre" es um der in Trunkenheit begangenen Dummheiten willen erfordert. Der zweite betrinkt sich, verspielt sein und seines Vaters Geld und endet als Lump in Amerika. Der dritte betrinkt sich, wird von einer Dirne angesteckt, steckt Frau und Kinder an und stirbt im besten Mannesalter an Ge- hirnerweichung. Wenn es gegen die Ehre wäre, zu trinken, zu spielen, Wollust ohne Liebe zu suchen und Mädchen zu betrügen, dann sollte man die Ehre preisen. Ist der Adel zum Theile das nicht, was er sein könnte oder sein sollte, so haben seine Grundsätze doch immerhin Grosses geleistet. Da, wo sie fehlen, wo die Lebensführung und die Fortpflanzung ganz der Willkür überlassen sind, da steht die Sache noch viel schlechter. Man könnte manchmal meinen, die Einrichtungen der Gesellschaft wären gerade zu dem Zwecke getroffen, die Rasse zu verschlechtern. Die Natur. will (so pflegt man zu sagen), dass der Mensch schön und stark sei. Sie hat deshalb dafür gesorgt, dass die Liebe, d. h. der individualisirte Geschlechts- trieb, sich den Schönen und Starken zuwende, dass sie am stärksten zu der Zeit sei, wann Schönheit und Stärke am grössten sind. Da kommt aber der Herr Staat und sagt: was geht mich die Natur an? ich brauche die Menschen zu meinem Dienste, sie mögen U Digitized by Google 112 n 3. Ueber die Veredehtns: des measchticlteii Oeschledites. zusdien, wie sie sidi mit der Nafair abfinden. Der Staat behUt Recht, die Zeit der Ehesch&essnng wird immer weiter hinausgerQckt, nnd die üblen Folgen dieses widematärlichen Verfahrens treten dit Auch der Eigennutz redet vielfach wider die Natur. Es han- delt sich immer um drei Stufen. Anfänglich Qt>erl^ der Mensch noch m'cht vid, er thut instinctiv dassdbe, was die Natur will, Mne es das Thier thut Mit der Reflexion erwachen die individualistischen Bestrdiungen, der Eigennutz steht in Widerspruch mit dem Nutzen der Art. Spät (oder gar nicht) zagt die Vernunft, dass der Verzicht auf eigennützige Bestrebungen das Beste ist Auf der zwdten Stufe glaubt der Mensch, die Ehe sd seines Vergnügens wegen da, und je nachdem verlangt er nadi ihr, sch]d>t sie hinaus, oder verneint sie übeiiiaupt Nun ist es gewiss zweckmässig, wenn einige Menschen, besonders Ge- lehrte und Künstler, wegen der Entwickelung der In- dividualität zu grösster Leistungsfähigkdt von der Ehe absehen, aber um diese Mdne Zahl handelt es sich hier nicht, sondern um die Moige. Nur Der, dessen persönliche Ldstungen mehr werth sind als Kinder, erhält von der Natur Dispens; der individudle Spass spidt keine Rolle. Sagt Jemand, ich will noch nicht hdrathen, weil ich erst das Leben geniessen will, so ist er dn Sünder. Durch die staatlichen und gesell- schaftlichen Einrichtungen wird gerade Denen das Hd- rathen am meisten erschwert, von deren Kindern am meisten zu erwarten wäre, denn gerade die Strebsamen und Tüchtigen, die Gewissenhafte werden sich scheuen. Digitized by Google 113 n 3. Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. mit ungenügenden Mitteln eine Ehe zu schliessen. Je höher den Einzelnen seine Tüchtigkeit oder der Zu- fall führt, um so grösser werden die Anforderungen und die Schwierigkeiten. Kann der Mensch nicht in der Fülle der Jugend heirathen, so wird er vielfach zu klug dazu. Der Eigennutz hält ihn dann überhaupt zurück, oder, was das Gewöhnliche ist, er verdirbt seine Motive. Der junge Mensch will aus Liebe hei- rathen, d. h. er folgt der Natur, sucht das, was die Natur will, Schönheit, Lieblichkeit, Kraft, und zwar in der Form, die er instinctiv als die ihm zusagende er- kennt. Der Reifgewordene dagegen handelt nach ver- ständigen Erwägungen, wenn er heirathet, d. h. er handelt im Sinne der Natur dumm. Ihn bestimmen das Geld, der Rang des Vaters, Rücksichten aller Art, und es ist sehr begreiflich, dass die Producte der Ver- nunftehen zu wünschen übrig lassen. Man sagt oft, Ehen aus Vernunft seien glücklicher als Ehen aus Leidenschaft. Aber es kommt gar nicht auf das „Glück** der Ehe an, auf die Qualität der Kinder kommt es an. Die Beschaffenheit eines Menschen hängt in erster Linie ab von der Beschaffenheit seiner Eltern, sodann von den Bedingungen der ersten Lebenszeit. Erst an dritter Stelle und in beträchtlichem Abstände folgt die Erziehung im gewöhnlichen Sinne. Thöricht sind Staat und Gesellschaft, dass sie sich so wenig um die rich- tige Erzeugung der Kinder kümmern. Thöricht sind sie, dass sie sich nicht um die ersten Jahre des Men- schen kümmern. Durch das grosse Sterben der Kinder im ersten Jahre werden zwar die ganz untauglichen U Möbius, Werke. VI. 8 Digitized by Google ar 114 3. Uebcr die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. ausgeschieden, aber ein grosser Theil der Sterbenden war von vornherein durchaus lebensfähig, stirbt nur durch Vernachlässigung. Schlimmer noch ist Verküm- merung der Kinder darch Krankheit. Die Mehrzahl der von Kindheit an Blinden, Tauben, Blödsinnigen, Epileptischen hätte vor dem Siechthume bewahrt wer- den können. Fänden die Kinder in den ersten Jahren bessere Lebensbedingungen, so würden die Ergebnisse der Rekrutirung nicht so jämmerlich sein, brauchten nicht die Meisten wegen körperlicher Unfähigkeit zu- rückgewiesen zu werden. Auch für die geistige Ent- wickelung sind gewiss die ersten sechs Jahre die wich- tigsten; was da verdorben worden ist, lässt sich später nicht wieder gut machen. Man braucht nur die Augen aufzumachen, um zu erkennen, dass unter unseren Verhältnissen der natür- liche Lauf der Dinge zu ganz erbärmlichen Ergebnissen führt. Man nehme einmal an einem Volksfeste theil und sehe sich die Leute aufmerksam an. Das Herz thut einem weh bei all der Verkümmerung, Hässlich- keit, Verschrobenheit. Wie schön, ja wie edel erscheint jedes frei lebende Thier, und was für eine jämmer- liche Vogelscheuche ist durchschnittlich der civilisirte Mensch! Man stelle sich einmal vor, wir gingen nackt, und male sich das Bild aus, dass dann unsere Städte bieten würden. Es wird einem übel bei dem Gedanken. Hier könnte Jemand bemerken, es komme auf die Masse gar nicht an. Die Mehrzahl der Menschen sei sozusagen Kanonenfutter. Der Zweck der Natur werde erreicht, wenn nur einige Individuen das Ideal der Oat- Digitized by Google 115 3. Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. tung darstellen. Dieses aber sei nicht möglich ohne die Herabdrückung und Opferung der Mehrheit Mir wollen solche Reden nicht einleuchten. Es ist ja rich- tig, dass die höchsten Ziele nur Wenige erreichen können, dass die Natur von Hause aus aristokratisch ist, dass auch unter den günstigsten Umständen die Meisten tief unter den Bevorzugten stehen werden. Aber es giebt doch einen Mittelweg zwischen demo- kratischer Gleichmacherei und jener grausamen Form der Oligarchie. Die letztere hat ihr Vorbild an man- cher industriellen Entwickelung, bei der die ständische Gliederung durch eine Spaltung in ein paar ganz Reiche und viele ganz Arme ersetzt wird. Solche unglück- liche Combinationen sind hoffentlich nur vorübergehend möglich, den Einrichtungen der Natur entspricht die ständische Gliederung doch viel eher. Arme und Reiche wird es immer geben, auch im Sinne der Ent- wickelung der Art, aber zu erstreben ist die Vervoll- kommnung Aller, sowohl der Reichen, d. h. der körper- lich und geistig Hochentwickelten, als der Armen, der auf einer tieferen Entwickelungstufe Stehenden. Ein Bauer kann nie so aussehen und das Gleiche leisten wie ein Ritter, aber es ist doch ein grosser Unterschied zwischen einem verarmten, verkommenen Bauer und einem in guten Verhältnissen lebenden Bauer. Es giebt eben ein Ideal des Bauers und ein Ideal des Ritters, ein Ideal des Fabrikarbeiters, des Handwerkers, des Gelehrten, und die Veredelung der Rasse besteht darin, dass die natüriich getrennten Stände ihrem Ideale ge- nähert werden. Digitized by Google LT 116 3. Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. Wenn nun von der Allgemeinheit die Veredelung der Rasse bewusst erstrebt würde, was könnte ge- schehen? Das erste Ziel wäre die Ausmerzung der Kranken und der Bösen. Dazu aber wäre das Wich- tigste, die Kranken und die Bösen an der Fortpflanzung zu verhindern. Personen, die des Vemunftgebrauches beraubt sind, können eine Ehe nicht schliessen. Die Ehe ist lösbar, wenn der eine Ehegatte erst nach der Eingehung der Ehe erfährt, dass der andere schon vor der Ehe unheilbar geistig krank gewesen ist, oder an unheilbaren ekelhaften oder ansteckenden Krank- heiten leidet, oder sich eines Verbrechens schuldig gemacht hat. Die Einwillligung zur Ehe kann von den Berechtigten versagt werden, wenn der andere Theil ein unsittliches Leben führt, oder Verbrechen begangen hat, oder „mit einer den Ehezweck stören- den oder leicht auf die Nachkommenschaft übergehen- den körperlichen oder mit einer geistigen Krankheit behaftet ist." Die Ehe kann geschieden werden wegen unverbesserlicher Trunksucht, wegen schwerer Ver- brechen, wegen Geisteskrankheit, wenn diese länger als drei Jahre beobachtet und für unheilbar erklärt worden ist. Bei diesen Bestimmungen des sächsischen bürgerlichen Gesetzbuches sagt der Gesetzgeber, ab- gesehen von der citirten Stelle, nirgends, dass ihn die Sorge um die Nachkommenschaft bewege, immer wird nur das Recht der Ehegatten ins Auge gefasst. Das Strafgesetz ist insoweit anzuziehen, als Todesstrafe und langdauernde Freiheitstrafen die Fortpflanzung un- möglich machen, obwohl dies natürlich nicht als Zweck Digitized by Google 117 3. Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. der Strafe bezeichnet werden darf. Die Verhinderung der Fortpflanzung gehört bis jetzt überhaupt nicht zu den Zwecken des Rechtes. Wahrscheinlich wird der Jurist unsere Forderungen für ungeheuerlich halten. Das hängt damit zusammen, dass das bürgerliche Recht nur von den Rechten der vorhandenen Personen han- delt, dass das Strafgesetz je nach der geltenden Theorie Abschreckung, Sühne, Besserung beabsichtigt. Käme es dahin, dass wirklich salus publica suprema lex wäre, so müsste unsere Gesetzgebung sehr wesent- lich verändert werden. Dann müsste der Gesetzgeber das Wohl der kommenden Generation zu seinen wich- tigsten Aufgaben rechnen und müsste die Hand dazu bieten, Die, deren Nachkommen nach wissenschaft- licher Kenntnis untauglich sein werden, an der Fort- pflanzung zu hindern. Das sicherste und billigste Mittel wäre die Tödtung. Da kommt zweierlei in Betracht, entweder nur die Aufrechterhaltung der Todes- strafe nach den geltenden Bestimmungen, oder die Tödtung auch in anderen Fällen. Man kann wohl sagen, dass nichts verkehrter sei als die sentimentalen Decla- mationen gegen die Todesstrafe. Vernünftigerweise kann man nur Vermeidung jeder Grausamkeit fordern, einen raschen leichten Tod (der zweckmässigste wäre Vergiftung, etwa Chloroformirung; das Köpfen ist eine greuliche Rohheit). Alles übrige gilt nicht. Man habe nicht das Recht einen Menschen zu tödten. Ja warum denn nicht? Da, wo die Noth drängt, fragt man über- haupt nicht lange. Beim Kriegsrechte sieht man recht deutlich, was es mit den Reden von den Zwecken des Digitized by Google 118 3. Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes« Rechts auf sich hat. Hier tödtet man unbedenklich und ohne alle Rücksichten, sowie man es im Sinne der Kriegsführung für zweckmässig hält. Einen Spion z. B. erschiesst man ohne Weiteres, obwohl Jeder die Spionage für nothwendig hält. In Wahrheit sind wir immer im Kriege, und soll immer die Zweckmässigkeit das Maass des Handelns sein. Es ist eine infame Heuchelei, wenn man den Satz bestreitet, dass der Zweck die Mittel heiligt. Es müssen nur die rechten Zwecke sein. Also gegen die sanfte Tödtung ist nichts einzuwenden, und sie ist da anzuwenden, wo es sich herausgestellt hat, dass die Fortdauer des Individuum mit dem Wohle der Gesellschaft unverträglich ist. Die Verurtheilung zu lebenslänglicher Gefangenschaft ist eigentlich eine Grausamkeit, von den unnützen Kosten gar nicht zu reden. Abgesehen von der Tödtung der Verbrecher könnte man auch an die Tödtung von Kranken denken. Man hat schon mehrmals den Vor- schlag gemacht, unheilbare und schwer leidende Leute, wenn sie es selbst wünschen (im Falle der Vernunft- losigkeit, wenn die Familie es wünscht), und wenn eine Commission von Sachverständigen es billigt, zu tödten. Da jedoch bei solchen Kranken die Fort- pflanzung kaum mehr in Betracht kommt, so können wir hier von dieser Frage absehen. Die langen Ge- fängnissstrafen haben den Vortheil, dass die Verbrecher vom Zeugungsgeschäfte abgehalten werden. Aber die Regel sind doch verhältnissmässig kurze Strafen, auch die Gewohnheitverbrecher haben gewöhnlich lange zu thun, bis sie dauernd eingesperrt werden, und nach Digitized by Google 119 3. Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. der Entlassung Ist es jedem Verbrecher gestattet, seine Art zu verewigen. Man spricht den Verbrechern die bürgeriichen Ehrenrechte ab, das ist ziemlich nutzlos, und es wäre besser, man spräche ihnen das Eherecht ab. Damit wird freilich der aussereheliche Geschlechts- verkehr nicht beseitigt, aber bei diesem wird doch ge- wöhnlich die Zeugung zu vermeiden gesucht, und das ist die Hauptsache. Schopenhauer sagt, man solle alle Schurken castriren und alle dummen Gänse ins Kloster sperren. Ich wüsste nicht, was man vernünf- tigerweise dagegen einwenden könnte, aber es ist doch nicht zu erwarten, dass die Gesetzgeber sich ent- schliessen, die Castration als Nebenstrafe anzuordnen. Wichtiger als die Verhinderung der Verbrecher-Fort- pflanzung wäre die der Kranken-Fortpflanzung. Es ist geradezu ein Scandal und ein Jammer, dass heute jeder Kranke Kinder zeugen kann, wenn nur sein Ge- nosse vom andern Geschlechte damit einverstanden ist. Das Gesetz thut nichts dagegen, ja es fördert die Ver- erbung der Krankheiten geradezu. Die Ehe ist heilig, der Zweck der Ehe ist das Fortpflanzungsgeschäft, folglich muss die eheliche Pflicht geleistet werden quand meme. Ob die Ehegenossen trunksüchtig, geistes- krank, schwindsüchtig sind, das ist ganz gleich. Zwar kann auf Trennung von Tisch und Bette erkannt werden, wenn durch das Zusammenleben die Gesund- heit oder das Leben des einen oder des anderen Ehe- gatten oder der Kinder gefährdet erscheint, aber abge- sehen davon, dass es zu der Trennung des Antrages darauf bedarf, es heisst ersichtlich: entweder Trennung Digitized by Google 120 3. Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. oder Zusammenbleiben und eheliche Pflicht. Mit Mühe und Noth ist erreicht worden, dass das deutsche bürger- liche Gesetzbuch die Scheidung wegen Geisteskrank- heit ungefähr unter den Bedingungen gestattet, die das sächsische Recht aufgestellt hat. Es ist schwer, ruhig zu bleiben, wenn man die Gegner der Scheidung wegen Geisteskrankheit von der Heiligkeit der Ehe predigen hört. Fiat connubium, pereat mundus. Das Recht der Ungeborenen sollte euch heilig sein. Ein krankes Kind in die Welt zu setzen, das ist das wahre Verbrechen gegen das keimende Leben. Nun wird freilich hier kaum je von einer dolosen Handlung zu reden sein, indessen kommt es darauf gar nicht an. Auch jetzt beurtheilt das Recht eine That verschieden je nach dem Erfolge, z. B. eine fahrlässige Handlung, die den Tod eines Menschen zur Folge gehabt hat, anders als die gleiche Handlung, wenn sie eine geringe Sachbeschä- digung bewirkt hat. Sieht man im Rechte zuerst den Diener der Wohlfahrt, so wird die Verhütung bedenk- licher Fahrlässigkeiten zu den wichtigsten Zwecken der Gesetzgebung gehören. Das Gesetz sollte sowohl die dolose wie die fahrlässige Erzeugung kranker Kinder zu verhüten suchen. Zunächst also wäre, soweit wie es möglich ist, zu verhindern, dass kranke Personen, von denen kranke Kinder zu erwarten sind, die Ehe eingehen. Es ist ohne Weiteres zuzugestehen: nur ver- hältnissmässig wenig Fälle liegen so klar, dass sie rechtlich fassbar sind, aber die blosse Thatsache, dass der Gesetzgeber sich ernstlich bemüht hat, würde weit- greifende segensreiche Folgen haben, denn das all- Digitized by Google 121 P 3. Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. gemeine Gewissen würde dadurch geschärft werden, die Leute würden zum Nachdenken über die Gefahren der Vererbung angeregt werden, und es würde dahin Icommen, dass ein in dieser Beziehung leichtsinniges Verfahren allgemeiner Missachtung ausgesetzt wäre, endlich für unanständig gälte. Gar zu gering ist in- dessen das gesetzlich Fassbare nicht. Erstens sind da die venerischen Krankheiten. Wenn Jemand weiss, dass er angesteckt worden ist, und dass bei ihm die Fähig- keit zur Ansteckung noch nicht erloschen ist, und wenn er trotzdem heirathet, so sollte er strafbar sein, und die Ehe sollte, obwohl die Krankheit nicht „un- heilbar** ist, nichtig sein. Hat ihm das Bewusstsein seiner Gefährlichkeit gefehlt, so wäre von seiner Be- strafung abzusehen, aber die Ehe sollte trotzdem an- fechtbar sein, und zwar sowohl, wenn der andere Theil getäuscht worden ist, als auch, wenn dieser um die Krankheit gewusst hat. Im Falle der Täuschung müsste der schuldige Theil zu grossen Schmerzensgeldern verpflichtet sein. Ferner sind die Geisteskranken ins Auge zu fassen. Die Bestimmung, dass Vemunftbe- raubte (es sollte heissen Geisteskranke) nicht heirathen können, ist ungenügend, denn sie trifft nur den actuellen Zustand. Zu den praktisch wichtigsten Formen des Irreseins aber gehört die periodische Geistesstörung, bei der die einzelnen Erkrankungen durch lange Zeiten relativen Gesundseins getrennt sein können. Die Kran- ken gelten in der Zwischenzeit für geheilt, aber solche „Geheilte" sollten nicht ehefähig sein. Ferner müsste die Ehe anfechtbar sein, wenn die Gefahr des Irre- Digitized by Google 122 3. Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. Werdens besteht, die belastenden Thatsachen aber (Irrsinn in der Familie, gewisse „nervöse" Symptome) verschwiegen worden sind. Die dritte wichtige Kranken- Gruppe bilden die Schwindsüchtigen. Die Gefahr der Vererbung ist auch hier so gross, dass ernste Maassregeln gerechtfertigt sind. Der Staat sollte das Heirathen von Personen, bei denen die Tuberkulose nachgewiesen ist, schlechtweg verbieten. Wenn die Krankheit erst nach der Eheschliessung eintritt, so ist freilich die ver- ständige Gesinnung der Ehegatten die Hauptsache. Jedoch sollte das Eherecht die Bestimmung enthalten, dass die eheliche Pflicht verweigert werden darf, wenn die Befürchtung besteht, es möchte durch Krankheit einer oder beider Ehegatten die Frucht geschädigt werden. Eine Aufforderung zur Enthaltsamkeit könnte so gegeben werden, dass in den Fällen, in denen die Krankheit Scheidungsgrund wird, der Ehegatte, der die Scheidung oder Trennung verlangen will, verpflichtet sei, von der Feststellung des Krankseins an den ehe- lichen Umgang zu meiden. Eine Vermehrung der Schei- dungsgründe dagegen scheint nicht rathsam zu sein. Bei venerischen Krankheiten ist eigentlich der Schei- dungsgrund mit der Krankheit selbst gegeben, da diese Krankheiten fast ausnahmlos von Verheiratheten durch Ehebruch erworben werden. Trunksucht und Geistes- krankheit sind ebenfalls Scheidungsgründe. Schwind- sucht dagegen ist es nicht und soll es nicht sein, da der Kranke geschont werden muss. Die wirthschaft- lichen oder die gemüthlichen Zustände verhindern die Trennung oft auch dann, wenn das Gesetz sie ge- Digitized by Google 123 3. Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. stattet. Immer vergeht, ehe es zur Trennung kommt, eine verhältnissmässig lange Zeit. Auch dieser That- sachen wegen ist auf die Scheidungsgründe weniger Gewicht zu legen, als auf das Recht, bezw. die Pflicht zur Unterlassung des ehelichen Umganges. Die Pflicht zur Enthaltsamkeit kann in der Hauptsache nur als moralische Forderung gedacht werden, aber Recht und Moral hängen enge zusammen. Lassen die Gesetze die Tendenz erkennen, den ehelichen Umgang bei ver- erbbaren Krankheiten aus Rücksicht auf die Frucht zu hemmen, so wird die Sitte davon beeinflusst werden, geradeso wie sie jetzt durch das Streben des Eherechts beeinflusst wird, die eheliche Pflicht als unverletzlich darzustellen, als bindend, wenn nicht Leben oder Ge- sundheit eines Ehegatten bedroht ist. Man könnte meinen, wichtiger als die Verhinderung der Fortpflanzung sei die Behandlung der Kranken, mache man diese gesund, so erledigen sich die Be- denken. Das wäre wohl richtig, wenn nicht die Krankheiten, um die es sich hier handelt, in der Haupt- sache unheilbar wären. Immerhin ist die richtige Be- handlung der Kranken eine wichtige Sache, und es sollte mehr dafür geschehen, als bis jetzt geschieht Die Behandlung der venerisch Kranken muss möglichst rasch und energisch ausgeführt werden, und die All- gemeinheit hat sich darum bisher zu wenig gekümmert Genügende Ausbildung der Aerzte, Belehrung des Pu- blicum, reichliche Gelegenheit zur unentgeltlichen Be- handlung und Discretion dabei sind zu wünschen. Die Mehrzahl der Irren ist zwar im strengen Sinne Digitized by Google 124 3. Ueber die Veredelung des menschlichen Geschlechtes. vendig bewusst sein, da es hier noch nicht zu einer Abtrennung der unteren Behörden gekommen ist Gustav: Wir nehmen also, wenn ich es recht ver- standen habe, an, dass Eigenbewusstsein an Selbst- ständigkeit geknüpft sei, dass jedes selbständige Wesen irgend eine Art von Bewusstsein haben müsse, und dass jedem Bewusstsein die drei von Dir genannten Merkmale zukommen. Nicht wahr? Digitized by Google 165 4. Drei Gespräche über Metaphysik. Theodor: Gewiss. Gustav: Nun kommen wir in der Thierreihe herab- steigend zu den EinzeUigen. Von ihnen gilt naturlich das Gesagte auch. Hat aber ein einzelliges Wesen ein Innenleben, wie steht es dann mit den Mehrzel- ligen? Die Zelle, die mit anderen Zellen in einen Ver- band eingeht, verliert doch nicht ganz ihre Selbstän- digkeit, verliert sich ihr Innenleben in dem des Ver- bandes? Theodor: Vortrefflich! Dahin wollte ich gerade. Es führt uns das zum Stufenbau der Welt Von aussen betrachtet ist die Zelle der Elementarorganismus oder der Baustein der organischen Welt Durch Zusammen- fügung gleichartiger Zellen entstehen relativ einfache Organismen, rasch aber wächst die Mannigfaltigkeit, und die höheren Organismen erscheinen als sehr ver- wickelte Systeme verschiedenartiger Zellen. Trotz aller Mannigfaltigkeit aber ist der Organismus Einer und in den höheren Organismen herrscht eine straffere Cen- tralisation als in irgend einem menschlichen Staate. Nun finden wir in uns die centrirte Seele und müssen nach deren Verhältnisse zu der Mannigfaltigkeit des Organismus fragen. Im Menschen liegt die Sache so, dass eine Anzahl von Ganglienzellen, die einander mit ihren Ausläufern berühren und die im anatomischen Sinne durchaus kein Centrum haben, vielmehr symme- trische Gruppen bilden, den sichtbaren Repräsentanten des seelischen Geschehens darstellt Entsteht unsere Seele durch Verschmelzung der Ganglienzellen-Seelen? Jeder fühlt die Absurdität einer solchen Vorstellung. Digitized by Google 166 4. Drei Gespräche über Metaphysik. Ueberdem wäre eine solche Verschmelzung nur mög- lich, wenn die Zellen selbst verschmölzen. Wir kennen ja eine Zellenverschmelzung mit dem entsprechenden Ergebnisse, die Befruchtung. Die Entstehung einer höheren Individualität auf Grund eines Systemes unter- geordneter Individualitäten können wir uns nur so denken, dass wir jene als durch die Bewegungen zwi- schen den Gliedern des Systems repräsentirt ansehen. Eine Ganglienzelle kann natürlich nichts repräsentiren als sich selbst, haben wir aber zwei oder überhaupt ein System von Zellen, so ist etwas Neues mit den von einer Zelle auf die anderen übergreifenden Bewe- gungen gegeben. Ueberhaupt muss jedwede seelische Einheit zu einer physikalischen Mannigfaltigkeit in Be- ziehung gesetzt werden, da eine Bewegung mindestens zwei Bewegte voraussetzt. Treten verschiedene Systeme in Beziehung zu einander, so wird der neue Bewegungs- zustand zu unterscheiden sein von den Bewegungs- zuständen innerhalb der einzelnen Systeme und, wenn Gründe zur Annahme einer übergeordneten seelischen Einheit vorliegen, so wird sie an jenen zu knüpfen sein, ohne dass ein Mittelpunkt im physikalischen Sinne gesucht werden müsste. Gustav: Der Gegenstand ist recht schwierig, aber das ist freilich richtig, dass die Betrachtung des Ge- hirns keinen Mittelpunkt erkennen lässt und dass die Ich-Natur der Seele nicht aus der körperlichen Mannig- faltigkeit erschlossen werden könnte. Dass unser ein- heitliches und moralisches Ich an ein System von mehr oder weniger selbständigen Organismen geknüpft ist, Digitized by Google 167 4. Drei Gespräche über Metaphysik. XI müssen auch Die zugeben, die diesen Organismen eine eigene Innerlichkeit abstreiten möchten. Theodor: Im Menschen liegt die Sache so, dass wir aus der inneren Erfahrung die Gesammtseele, wenn ich so sagen darf, kennen, aus der wissen- schaftlichen Beobachtung die physikalischen Einheiten, deren System der physikalische Repräsentant jener ist. Ob diese Einheiten, d. h. die Gehirnzellen, ein selbst- ständiges inneres Leben haben, sagen wir Unterseelen, das ist eine Frage, die nur auf Grund weitergreifender Betrachtungen mit einigem Rechte beantwortet werden kann. Ich könnte Dir einen Fall nennen, aus dem Belehrung zu schöpfen wäre. Gustav: Das wäre!? Theodor: Nimm an, wir verhielten uns zu einem grösseren Organismus, wie sich unsere Gehirnzellen zu uns verhalten, so würden wir die physikalischen Verhältnisse eben so gut beurtheilen können, wie im Menschen -Falle, und würden über die Unterseelen durch unsere innere Erfahrung sicher sein. Dagegen würden wir in diesem neuen Falle die Gesammtseele nur erschliesser md ihre Existenz würde be- stritten werden Gustav: Ja 5 einen solchen Fall gäbe! Dann freilich wurucn ücide Reihen einander ergänzen Theodor: Es giebt ihn, denn wir sind Organe der Erde. Gustav- r>" «^ch väre es möglich, die Erde als Ic s ' itrachten? Digitized by Google 168 4. Drei Gespräche über Metaphysik. Theodor: Ueberlege doch! Was verlangen wir von einem Organismus? Dass er eine abgegrenzte Gestalt und eigene Bewegung, Stoffwechsel und Ent- wickelung habe. Nicht? Nun ist die Erde eine gegen ihr System abgeschlossene Gestalt wie wir, sie hat ihre eigene Bewegung, unser Stoffwechsel ist nur ein Theil des ihrigen und ihre Entwickelung lässt sich doch nicht bestreiten. Unsere Gestalt macht uns geeignet, uns auf der festen Oberfläche der Erde zu bewegen, ihre Gestalt passt zu der Aufgabe, im Welträume zu flie- gen. Ihre Bewegung ist streng gesetzmässig, aber ist es die unsere nicht? Wir müssen hin und herlaufen, um Nahrung u. s. w. zu finden. Die Erde erreicht durch ihre regelmässige Bewegung auch, was zu ihrem Leben nöthig ist, denn ihre Nahrung sind die Sonnen- strahlen. Im Grunde ist ja auch unsere Energie ver- wandelte Sonnenstrahlung. Wie wir vor der Geburt und nach der Geburt durch manche Wandlungen gehen, so hat offenbar auch das irdische Reich sich nach festen Gesetzen, denen der Erdembryologie, ent- wickelt. Wir haben ja beide die darwinistische Be- wegung durchlebt Jetzt ist die Mehrheit der Den- kenden zu der Einsicht gekommen, dass der Gedanke der stetigen Entwickelung festzuhalten ist, aber man beginnt zu begreifen, dass der Fehler, ja die Verrucht- heit des Darwinismus darin bestand, diese Entwicke- lung als ein Spiel des Zufalls aufzufassen. Ich sehe in der That nicht ein, wie man die Erde anders als einen principiell dem unseren analogen Organismus auffassen könnte. Digitized by Google 169 4. Drei Gespräche über Metaphysik. Gustav: Wir wären also dann die Ganglienzellen der Erde? Theodor: Freilich. Zwar sind wir beweglicher als unsere Gehirnzellen, aber wir haben in uns auch Wan- derzellen, die jenen verwandt sind, und überdem stehen doch thatsächlich die Menschen ebenso mit einander in Zusammenhang wie unsere Gehirnzellen. Kann sich in uns an einen Complex von Zellen ein einheitliches Bewusstsein knüpfen, so ist es auch bei der Mensch- heit und den übrigen Organismen der Erde möglich, nur dass hier Zellenstaaten den Complex zusammen- setzen. Freilich ist festzuhalten, dass ebenso, wie die äusseren Zustände verschieden sind, auch die inneren verschieden sein müssen, und dass wir uns hüten müssen, die letzteren als verständlich anzusehen. Gustav: Aber bedenke doch die Kriege unter den Menschen und Aehnliches, denke an die willküriiche Verwendung der irdischen Stoffe durch die Menschen, die ihre Häuser und Eisenbahnen bauen und sich über- haupt nicht als Organe, sondern als Herren der Erde benehmen. Theodor: Kriege und andere Abweichungen vom normalen Veriaufe sind als pathologisch anzusehen. Auch in uns gehen bei Entzündungen Massen von Zellen . zu Grunde, auch wir sind Verietzungen aus- gesetzt. Die Arbeit der Menschen aber an der Erde kann auch als Arbeit der Erde selbst angesehen wer- den, bei denen sie uns benutzt: Wir glauben zu schie- ben und werden selbst geschoben. Gustav: Wunderiich, höchst wunderiich! Digitized by Google 170 4. Drei Gespräche über Metaphysik. Theodor: Sehr fremdartig, denn fremd der allge- meinen Denkart ist wahrlich die Lehre von der leben- digen Erde, da doch Alle sich verschworen haben, das Lebendige aus dem Todten und das Bewusste aus dem Bewusstlosen hervorgehen zu lassen. Aber: si omnes patres sie, nos tamen non sie Will jemand die Ent- wickelung des irdischen Reiches verstehen, so muss er sie eben als gesetzmässige Entfaltung eines Orga- nismus auffassen, es giebt keinen anderen Weg. Wie man die Ontogenesis durch die Phylogenesis erläutern mag, so muss man umgekehrt diese auf jene beziehen, denn die Entstehung der Arten ist nur ein Abschnitt aus der Ontogenesis der Erde. Gustav: Wenn die Erde ein lebendes Wesen ist, so muss sie doch auch Eltern haben. Theodor: Natürlich, sie ist doch auch Produkt und Glied eines grösseren organischen Reiches, des Sonnen- systems, und steht zu diesem in einem analogen Ver- hältnisse wie ihre Geschöpfe zu ihr. Gustav: Demnach würde man auch von einer Seele des Sonnen- oder Planetensystems zu reden haben? Theodor: Entspricht dieses nicht erst recht dem Begriffe eines Organismus? Gustav: Dabei schwindelt einem, indessen ist wohl so viel richtig, dass man im Planetensysteme das Bild eines organischen Moleküls sehen kann, da wir diesem doch eine Anzahl um einen Mittelpunkt schwingender Theilchen zuschreiben müssen. Theodor: Damit erinnerst Du mich daran, dass Digitized by Google 171 Digitized by Google 172 4. Drei Gespräche über Metaphysik. sich in Organisches und Unorganisches gespalten habe und dass bei diesem Processse das Unorganische als Caput mortuum ausgefallen sei. Immerhin ist doch an dem gemeinsamen Ursprünge festzuhalten, daran, dass eine principielle Verschiedenheit nicht bestehe. Auch die chemische Betrachtung fusst darauf, dass das Or- ganische in derselben Weise zusammengesetzt sei wie das Unorganische, dass nur dort die Moleküle grösser und die Bewegungen ihrer Theilchen complicirter seien. Wäre es anders, so wäre das Wachsthum der Indivi- duen ganz unverständlich. Soweit wie unsere Erfah- rung reicht, entsteht die Zelle aus anderen Zellen, aber sie muss, indem dass sie wächst, unorganische Mole- küle in organische verwandeln oder diese aus jenen zusammensetzen. Umgekehrt geht es leichter, denn ein verhältnissmässig geringer Anstoss. sprengt die or- ganischen Moleküle und lässt sie in unorganische zer- fallen. Auch im lebenden zusammengesetzten Organis- mus wird nicht nur als Excret fortwährend Unorgani- sches ausgeschieden, sondern es werden auch unor- ganische Körperbestandtheile gebildet, innere und äussere Schutzdecken, Knochen, Flüssigkeiten. Gustav: Wenn ich Dich recht verstehe, nimmst Du an, dass die Moleküle nur gradweise verschieden seien, aber die Grenze zwischen dem Lebendigen und dem Leblosen ist doch ganz scharf. Theodor: Gewiss, indessen ist doch nicht zu ver- kennen, dass Sauerstoff, Wasser, Harnstoff, Eiweiss eine aufsteigende Reihe darstellen, und dass das le- bende Eiweissmolekül vom todten sich nur dadurch Digitized by Google 173 4, Drei Gespräche über Metaphysik. unterscheiden kann, dass grössere Bewegungen in ihm stattfinden. Gustav: Ich sehe wohl, dass da Icein Widerstreiten hilft. Ist alles nur Bewegung, so giebt es natürlich nur ein mehr oder weniger. Theodor: Doch ist das Streben der Physik, alle natürlichen Vorgänge einheitlich aufzufassen, nicht will- kürlich, je weiter unsere Erfahrungen reichen, um so mehr bestärken sie jenes Streben. Ist aber die ein- heitliche Auffassung der Physik berechtigt, so muss es auch gestattet sein, die an einer Stelle der physi- kalischen Erscheinung coordinirte Reihe in einheit- lichem Zusammenhange zu denken, obwohl wir sie nicht in dem Sinne verfolgen können wie die Reihe der physikalischen Veränderungen. Gustav: Das hast Du gethan, indem Du vom Menschen zu den Himmelskörpern auf- und zu dem Molekül abstiegst, aber wenn ich diese Gedanken zu- sammenfasse, so stehen auf der seelischen Seite lauter abgeschlossene Individualitäten, und es fehlt der Zu- sammenhang, der den durch das Ganze ziehenden Schwingungen der Körperwelt entspräche. Die Sache stellt sich doch so dar, dass die Zelle ein System von Molekülen ist, ihr innerliches Wesen aber dem der Moleküle selbständig gegenüber steht, dass in ähnlicher Weise in den zusammengesetzten Organismen Systeme von Zellen innerlichen Einheiten entsprechen, derart, dass ein so complicirter Organismus wie der des Menschen eine ganze Hierarchie von Systemen bildet, und auch im seelischen Reiche das obere Bewusstsein i Digitized by Google 174 4. Drei Gespräche über Metaphysik. über Einheiten niederer und höherer Ordnung gesetzt ist, zu ihnen sich verhält wie der König zu dem System der Behörden. Wir wissen, dass wir in un- serem Bewusstsein eingesperrt sind, und müssen des- halb auch über und unter uns Sperrgrenzen voraus- sehen, im Ganzen ein Schachtelsystem erblicken. Theodor: Jetzt, Freund, sehe ich, dass Du mir gefolgt bist, denn Deine Bemerkung weist mit Recht auf das noch Fehlende hin. Bedenke zunächst, dass die Thatsache unserer Unterredung zeigt, die Absper- rung sei nicht vollständig. Wir könnten nicht mit einander sprechen, wenn wir zwei Leben wären und zwischen uns der Tod; dass wir es können, zeigt, dass wir nur Theile Eines Lebens sind. Hier und dort unsere Gehirne, zwischen uns Luftschwingungen und Schwingungen von Nerventheilchen, wie könnten die Luftschwingungen Seelisches vermitteln, wenn sie nicht selbst ein Seelisches anzeigten, und wie könnte an die uns todt dünkenden Gasmoleküle ein seelischer Vorgang geknüpft sein, wenn sie nicht einem leben- den Systeme angehörten? Wir können von diesen Dingen nicht anders als in Bildern reden, und so mögen wir uns die hinter dem Physikalischen steckende Wirklichkeit als ein fluthendes Geistermeer vorstellen, auf dem kleinere und grössere Wellenberge die Indi- vidualitäten darstellen. Man kann auch so sagen: Wir gleichen Leuten, die im Centrum einer Halbkugel stehen und den Blick nur hinein, nicht nach hinten wenden können, so entsteht uns die Vorstellung, wir seien in einer Kugel eingeschlossen, während doch hinter uns Digitized by Google 175 4. Drei Gespräche über Metaphysik. die offene Weite liegt. Was wir unsere Seele nennen, das ist für einen Anderen ein System von Ganglien- zellen; was uns als selbständiges und abgeschlossenes Ich erscheint, das muss nicht für einen Anderen, son- dern für Den, in dem wir sind, ganz anders erscheinen. Auch mag das Leben einem Baume verglichen sein. Obwohl er aus verschiedenartigen Theilen, als Wur- zeln, Holz und Rinde, Blättern, Blüthen besteht, und bei näherem Hinsehen aus lauter einzelnen Zellen zu- sammengesetzt ist, ist er doch Einer, dieselbe Nähr- flüssigkeit dringt durch alle Theile und, ohne dass ein Centrum da wäre, wächst und wandelt sich alles in Beziehung zu einander* Und wieder mögen wir das Bild des allgemeinen Lebens in der Wanderzelle sehen; wie diese je nach Bedürfniss dahin und dorthin einer Fortsätze, Pseudopodien, ausschickt und sie dann wie- der einzieht, so treibt das Leben die Individualitäten hervor, die auch nur PseudoSelbständigkeiten sind. Gustav: Kurz gesagt, die ganze Welt ist Ein leben- des Weben. Theodor: Von der physikalischen Seite her wird niemand an der Einheitlichkeit des Ganzen zweifeln, da wir doch fest glauben, dass dieselben Gesetze überall herrschen. Die Lebendigkeit des Ganzen ver- steht sich eigentlich auch von selbst, da doch im physikalischen Sinne Leben und Bewegung dasselbe sein müssen und, wenn im engeren Sinne des Wortes das Leben nur an bestimmte Formen der Bewegungen geknüpft wird, doch klar bleibt, dass diese Bewegungen nicht principiell von den anderen Bewegungen ver- Digitized by Google 176 4. Drei Gespräche über Metaphysik. schieden sein können. Todt kann etwas nur beziehungs- weise genannt werden, insofern nämlich wie in ihm die Bewegung eine gewisse Einförmigkeit und Be- schränktheit erreicht hat. Immer finden wir das Todte nur als Bestandtheil eines lebendigen Systems, und alle höheren Systeme enthalten das Todte zwischen dem Lebendigen. Jede Zelle scheidet fortwährend Be- standtheile aus, und man kann sagen: todt ist das, was innerhalb eines höheren Systems auf der Molekülstufe steht, ohne activer Bestandtheil einer Zelle zu sein. Nun liegt es ja sehr nahe, der physikalischen Welt eine seelische Innenseite zu geben, Leben und seeli- sches Geschehen zu identificiren, und immer sind philosophische Köpfe zu solchen Gedanken gekom- men. Aber um derartige allgemeine Auffassungen handelt es sich jetzt nicht. Um das Verhältniss des seelischen Weltwesens zu den von uns fassbaren Indf- vidualitäten handelt es sich, darum, dass jenes weder neben diesen noch mit ihnen identisch gedacht werden kann. Wollte man den Ausdruck Weltseele brauchen, so könnte die Meinung entstehen, sie verhalte sich zur Welt wie des Menschen Seele zum Menschen. So aber ist es nicht gemeint. Vielmehr ist das seelische Weltwesen das Gegenstück zur Materie. Wir hatten diese definirt als grammatikalisches Subject der Bewe- gung. Ist nun die Bewegung nur das seelische Ge- schehen wie es von aussen, von einem Anderen auf- gefasst wird, so kann man auch von der sich selbst erscheinenden Materie reden. Vielleicht wäre die Be- zeichnung „allgemeines Bewusstsein'' am tauglichsten. Digitized by Google 177 4. Drei Gespräche über Metaphysik. wenn man dann nur nicht versuchen wollte, sich ein Bild des Unfassbaren zu machen. Gustav: Wäre es nicht richtiger, dann von „dem Unbewussten" zu reden, denn offenbar hat Dein Begriff ähnliche Bestimmungen wie der, den E. v. Hartmann als den des Unbewussten lehrte. Theodor: Ich glaube nicht. Die Negation sagt, dass etwas fehle, was das Bewusstsein hat. Aber in dem seelischen Weltwesen ist nicht nur unser und aller Individuen Bewusstsein eingeschlossen, sondern es muss selbst als sonnenhell und überbewusst, wenn man so sagen darf, gedacht werden. Wie könnte Be- wusstsein anders entstehen als aus Bewusstsein? Ueberdem, meine ich, muss man den Begriff einer unbewussten Vorstellung, den Leibniz eingeführt hat, für unvollziehbar ansehen. Eine unbewusste Vorstel- lung ist für uns gar keine Vorstellung. Rechtmässig kann der Ausdruck nur anzeigen, dass da, wo die Grenze unseres Bewusstseins ist, das seelische Ge- schehen nicht aufhört, aber das für uns Unbewusste muss doch in das allgemeine Bewusstsein fallen. Die Welle des Oceans ist Welle auch ausserhalb unseres Gesichtsfeldes, das immer nur ein Bruchstück umfasst. So fluthet das seelische Leben in ununterbrochenem Zusammenhange, wenn auch das Lichtlein, das wir unser Bewusstsein nennen, nur einen kleinen Kreis bescheint. Und wie jedes irdische Licht nur geborgtes Sonnenlicht ist, so stammt unser Bewusstsein aus dem Fond des allgemeinen Bewusstseins. Diese Gleichnisse hinken wie alle Gleichnisse, aber wie soll man ange- Möbius, Werke. VI. 12 Digitized by Google 178 4. Drei Gespräche über Metaphysik. messen von Beziehungen sprechen, zu denen uns zwar unser Denken drängt, für die aber jeder Aus- druck fehlt? Gustav: Wir sind, mit Goethe zu reden, zu „den Müttern" hinabgestiegen, da mag einem wohl der Athem ausgehen. Theodor: Und doch muss der Weg betreten wer- den, sollen wir nicht verschmachten. Digitized by Google 179 4. Drei Gespräche über Metaphysik. IIL Gustav: Also heute wollen wir wieder Metaphysik treiben. Theodor: Eigentlich sind wir schon fertig, denn alle wesentlichen Folgerungen des Principes sind ge- zogen. Es bleibt nur übrig, zu fragen, was damit gewonnen sei. Gustav: Sollten sich nicht begründete Einwürfe finden lassen? Die Thatsache, dass die Metaphysik Deines Lehrers noch so wenig Freunde gefunden hat, deutet doch an, dass es schwer ist, sie anzunehmen. Theodor: Wenn ich nicht gänzlich irre, kann man mit Fug und Recht nur noch den skeptischen Stand- punkt einnehmen. D. h. man kann sagen: wir erkennen zwar den physikalischen Zusammenhang einerseits, die Veränderungen unseres Bewusstseins andererseits, wir sehen uns auch genöthigt, irgendwelche gesetzmässige Beziehungen zwischen beiden Reihen vorauszusetzen^ aber weiter können wir nicht gehen, und was das Physikalische an sich sei, das bleibt gänzlich uner- findlich. Wer Lust hat und es aushält, der mag diese unbehagliche Stellung festhalten, herausdrängen kann 12' Digitized by Google 180 4, Drei Gespräche über Metaphysik. man ihn nicht Wer aber dem Satze zustimmt, dass die Vorgänge in unserem Bewusstsein von aussen gesehen, physikalisch, d. h. in der Wahrnehmung Be- w^[ung seien, der ist auch genöthigt, weitere Zuge- ständnisse zu machen, denn andernfalls musste er an- nehmen, dass er selbst von der übrigen Natur prin- cipiell verschieden sei. Gustav: Da haben wir aber doch die Dualisten, die der Materie eine Seelensubstanz entgegensetzen, die Monadologen und andere Leute? Theodor: Von allen diesen Leuten haben wir uns losgemacht dadurch, dass wir, wie Du Dich wohl er- innerst, von Anfang an der alten Metaphysik den Krieg erklärten, dadurch, dass wir uns von vornherein fest auf den Boden der Erfahrung stellten. Die Erfahrung aber enthält nichts, gar nichts als Bew^[ung und see- lisches Geschehen. Wer mit diesen beiden Bausteinen nicht auskommt, mit Dem haben wir nichts zu schaffen. Principien, die in der Erfahrung nicht gefunden wer- den, können nur aus der Phantasie stammen, wir dür- fen daher die Anhänger der alten Metaphysik als Phan- tastiker bezeichnen. Wir haben also ausser uns die Skeptiker und Phantastiker. Gustav: Du vergisst die Majorität, die Unbestimm- ten, die ohne Sorgen leben und die Metaphysik einen guten Mann sein lassen, eine Gattung, der anzugehören ich bis vor Kurzem die Ehre hatte. Theodor: Ich für meinen Theil verstehe nicht, wie man ohne Metaphysik leben kann. Indessen mögen da wohl Unterschiede der angeborenen Begabung in Digitized by Google 181 Digitized by Google 182 4. Drei Gespräche über Metaphysik. nichts gäbe ausser der Welt der Physik? Müsste man nicht verzweifeln, wenn wir wirklich hilflos und zwecklos in diesem dunklen todten Rumpelkasten steckten? Gustav: Ei, ei! Denke doch, die vielen schönen Naturgesetze, dass alles so ordentlich zugeht! Theodor: Ja, spotte nur. Es giebt wirklich blöde Schwärmer, die uns weis machen wollen, man könne mit der naturwissenschaftlichen Welt ganz zufrieden sein. Nein, heute wie zu aller Zeit heisst das Credo aller Verständigen: Es giebt eine Metaphysik! Dass wir bei strenger Anerkennung der wissenschaftlichen Ergebnisse doch eine Metaphysik haben, das ist unser Trost im Leben und im Sterben. Es ist ja wahr, dass wir mit jedem Schritte, den wir in der Metaphysik thun, weiter in das Unerfahrbare, Unfassbare hinein- gerathen, dass unsere Schlüsse, obwohl ich sie für correct halte, doch nicht voll befriedigen, dass wir trotz aller Mühe in Räthseln tappen. Aber Eins ist sicher, dass, wenn nur unsere ersten Schritte richtig waren, der Weg unter allen Umständen zu einer gei- stigen Welt hinter der physikalischen Welt führt, zu einer Welt, in der der Mensch sich nicht als lächer- liche Abnormität anzusehen braucht, in der sein Wesen zu Hause ist Die Metaphysik macht dem Menschen die Welt wieder zur Heimath, denn nun brauchen wir uns unserer Seele nicht mehr zu schämen, wir wissen, dass wir Glieder eines Geisterreiches sind, ja dass die Mechanik selbst nur eine Art von Seelenkunde ist Gustav: Nun ja, das ist nun die Frage: Inwieweit Digitized by Google 183 4. Drei Gespräche über Metaphysik. deuten die Gesetze des physikalischen Reiches auf die Art des Seelischen, wie ist überhaupt das Verhältniss zwischen den physikalischen Gesetzen und den Regeln, nach denen unser inneres Leben verläuft? Theodor: Da haben wir zuerst auf beiden Seiten die durchgehende Gesetzlichkeit Nicht als ob diese streng bewiesen wäre, aber wir setzen sie voraus, und je genauere Erfahrung wir erwerben, um so mehr finden wir sie thatsächlich. Der Satz: unter gleichen Umständen treten gleiche Folgen ein, unter abgeänder- ten Umständen abgeänderte Folgen, gilt im Seelischen ebenso wie im Physikalischen und ist die Voraus- setzung aller Wissenschaft. Weiterhin besteht eine formale Uebereinstimmung in der durchgehenden Gil- tigkeit der logischen Gesetze. Das Verfahren in der Naturwissenschaft besteht im Allgemeinen darin, dass wir durch möglichst sorgfältige Beobachtung uns eine Gleichung zu schaffen suchen. Die Gleichung be- arbeiten wir logisch, und die auf diesem Wege gefun- dene Lösung ist nicht nur logisch richtig, sondern entspricht auch der Wirklichkeit. Gustav: Damit dürfte aber wohl die Sache zu Ende sein? Theodor: In der That beschränkt sich die nachr weisbare Gemeinsamkeit auf die formalen Bestim- mungen. Es liegt nahe, anzunehmen, dass der Satz von der Erhaltung der Energie ein Gegenstück im Seelenreiche habe. Auch muss man daran glauben, und die Meinung, thatsächlich widerspreche die Er- fahrung, ist absurd. Aber es ist nicht wahrscheinlich. Digitized by Google 184 4. Drei Gespräche über Metaphysik. dass man je dahin kommen werde, etwas Positives aussagen zu können. Wir sind ja ganz unfähig, den Zusammenhang im Seelischen zu verfolgen, und wer- den es bleiben, weil wir den Standpunkt nicht ändern können. Die Metaphysik kann eben nicht auf alle Fragen antworten, die Vermuthungen, zu denen sie am Leitfaden der Analogie gelangt, sind nichts weniger als eine vollständige Erkenntniss der Welt Gustav: Also gelten weder die Gesetze der Natur für das Innere, noch giebt es Naturgesetze a priori. Theodor: Das letztere ist zweifellos der Fall, denn alle Axiome sind der äusseren Erfahrung entnommen. Jedoch fassen wir es richtiger so, dass der Zusammen- hang zwischen den physikalischen und den psycholo- gischen Gesetzen im Allgemeinen für uns unerkennbar sei. Eine Uebersetzung des Gesetzes von der Gravi- tation ins Seelische ist unmöglich, u. s. f. Gustav: Beweist aber nicht die gänzliche Ver- schiedenheit beider Seiten, dass das Princip, wonach Bewegung und Seelenvorgang dasselbe sein sollen, bedenklich ist? Theodor: Von gänzlicher Verschiedenheit ist doch keine Rede, da ja die allgemeine Geltung der logischen Gesetze, im Besonderen die Anwendbarkeit der Mathe- matik, die Wesensgleichheit darthut. Daraus schliessen wir eben, dass die beobachtete Verschiedenheit im Grunde scheinbar sei, von der Verschiedenheit des Standpunkts abhänge. Bei jedem solchen Zweifel muss man auf den Ausgangspunkt zurückgehen, dieser aber ist das menschliche Gehirn. Wird daran festgehalten, Digitized by Google 185 4. Drei Gespräche über Metaphysik. dass mit jedem seelischen Vorgange im Menschen ein im weiteren Sinne des Wortes physikalischer Vorgang im Gehirn gesetzmässig verknüpft sei, so ist dargethan, was dargethan werden soll. Gustav: Erkläre mir das, bitte, näher. Theodor: Niemand wird daran zweifeln, dass der Mensch thatsächlich nach Zwecken handelt. Wenn er das thut, laufen im Gehirn Veränderungen ab, die ge- rade so wie jeder beliebige Naturvorgang als Wirkungen vorhergegebener Veränderungen aufzufassen sind. Es erscheint also ein reiner Causalzusammenhang von innen gesehen als Zweckhandlung. Nun haben wir die Alternative, entweder ist der Mensch, der doch ein Stück der Welt ist und aus denselben Stoffen besteht, wie seine Umgebung, grundverschieden von der übri- gen Welt, oder das, was in ihm möglich ist, ist auch sonst möglich. Mit anderen Worten, wir haben kein Recht, da, wo wir die Dinge nur von aussen, als Causalzusammenhang sehen, das Vorhandensein von Zwecken zu leugnen. Gustav: Ja, das ist richtig. Die Positivisten dün- ken sich weise, wenn sie im Naturgeschehen den Causalzusammenhang erfasst haben, und vergessen, dass doch auch das menschliche Handeln einen sol- chen darstellt. Theodor: Da uns die Weltbetrachtung dazu ge- führt hat, den Menschen als Theil eines geistigen Zu- sammenhanges zu fassen, so muss uns das ganze Naturgeschehen zugleich als ein Reich der Zwecke erscheinen. Nur müssen wir nicht meinen, das Wie Digitized by Google 186 4. Drei Gespräche über Metaphysik. begreifen zu können. Dass Ursache und Wirkung zugleich Mittel und Zweck sind, das dürfen wir er- schliessen, aber die Art und den Inhalt des geistigen Zusammenhanges können wir aus der Betrachtung des physikalischen Zusammenhanges ganz und gar nicht erschliessen. Wenn Du so vollkommen, wie es nur denkbar ist, die Vorgänge in Deinem Kopfe beobach- ten könntest, nie würdest Du auch nur im geringsten etwas von dem errathen können, was dahinter steckt Erst die innere Erfahrung würde aus der Gleichzeitig- keit den Zusammenhang erschliessen lassen. Wäre aber jene ideale physikalische Erkenntniss gegeben, so würden wir mit Erstaunen wahrnehmen, wie scheinbar ganz ähnliche Veränderungen sehr verschiedene Folgen haben. Du sollst ein junger Mann sein, und zwei hübsche Mädchen sollen an Dir vorübergehen. Du siehst beide an und veriiebst Dich in die eine. Dieser gehst Du nach, machst ihre Bekanntschaft, heirathest sie nach verschiedenen Schwierigkeiten, zeugst mit ihr Kinder u. s. f., die andere wird vergessen. Nehmen wir nun den physikalischen Zusammenhang. Das An- sehen der beiden Mädchen ist zunächst repräsentirt durch zwei Processe in der Rinde deines Hinterhaupt- hims. Beide müssen natüriich gewisse Verschieden- heiten haben, werden aber einander sehr ähnlich sein. Die Schwingungen im Gehirn breiten sich in beiden Fällen aus, aber jene kleinen Verschiedenheiten bewir- ken, dass im einen Falle der Vorgang ohne verfolgbare Nachwirkungen vorübergeht, wie etwa ein Ton in der Luft verklingt, im anderen sich eine unabsehbare Folge Digitized by Google 187 4. Drei Gespräche über Metaphysik. von Veränderungen anschliesst Bedenke weiter, dass in diesem zweiten Falle es nicht nur in anderen Thei- len des Gehirns zu rumoren anfängt, nicht nur der ganze Körper dadurch in Bewegung geräth, dass die Bewegung vielmehr auf viele andere Systeme über- tragen wird, und die verschiedenartigsten Veränderun- gen sich aneinander reihen. Wurde man das Ganze von aussen betrachten, wie einen Vorgang in der Natur, so würde der grösste Scharfsinn nichts als Zufall erkennen, alles, was die Heirath vorbereitet, würde ihm zwar als ursächlich verknüpft, aber doch als zufällig erscheinen, geradeso wie wenn etwa der Wind einen Baum umwirft, und dieser einen Mann erschlägt Einzig und allein die Kenntniss Deiner Absicht bringt Sinn und Verstand in die Folge der Begebenheiten. Gustav: Ich sehe schon, die Metaphysik mahnt zur Bescheidenheit Theodor: Ja wahrhaftig! Wollten wir uns ver- messen, den Sinn des Lebens, das uns umschliesst, zu erkennen, so wäre das etwa so, als wollte eine Zelle Deines Körpers hinter Deine Absichten kommen. Was ist denn los? würde sie sagen, das Blut läuft rascher, und es herrscht im ganzen Hause Unruhe; aber trotz allem Nachsinnen würde sie von dem hüb- schen Mädchen nichts erfahren. Das sind Spässe, aber den Reden vom Menschen als Selbstzweck und der Philosophie der Geschichte gegenüber sind auch nur Spässe am Platze. Wir müssen uns damit begnügen, zu wissen, dass wir eine Rolle in dem grossen Schau- "D Digitized by Google Q" 188 4, Drei Gespräche über Metaphysik. Spiele spielen, aber seinen Inhalt kennen wir nicht Das Einzige ist, dass wir hoffen dürfen, es werde das Streben zum Besseren nicht nur uns, sondern dem Ganzen zukommen, und es werde, soviel grösser das Ganze als wir ist, auch seine Weisheit grösser als die unsere sein. Diese und ähnliche Gedanken ergeben sich ohne Weiteres aus den Grundzügen unserer Meta- physik, jedoch besteht die metaphysische Bescheiden- heit auch darin, zart und mehr in Andeutungen von dem zu reden, das seiner Natur nach unser Verständ- niss übersteigt. „Das System auszubauen", seine Wände sozusagen mit plumpen Definitionen zu bekleiden, das scheint mir ein Verstoss gegen die Schamhaftigkeit des Denkens zu sein. Die Metaphysik ist eben keine Physik, sie ist ein Ausblick in dämmernde Femen und muss sich nothwendig in Ahnungen vertieren. Gustav: Demnach könnten wir noch ein Capitel anschliessen, „von dem, was die Metaphysik nicht lehren soll". Theodor: Vor allen .Dingen soll sie nicht von Anfang und Ende reden. Gustav: Also wohl von der Unendlichkeit? Theodor: Den Begriff des Unendlichen müssen wir als reine Negation fassen, d. h. wir brauchen ihn da, wo wir kein Ende finden. Wir dürfen nie die Unendlichkeit als Eigenschaft einem Dinge beilegen. Wenn die Mathematik vom Unendlichgrossen und Un- endlichkleinen spricht, so besagt das nur, dass wir jeder Zahl noch eine grössere entgegensetzen können und dass keine Zahl so klein sei, als dass nicht zwi- Digitized by Google 189 4. Drei Gespräche über Metaphysik. sehen ihr und der Null noch eine kleinere sei. Die sogenannte Geometrie des Unendlichen ist nur ein Oedankenspiel. Sprechen wir von der Welt im Räume, so fühlen wir uns genöthigt, sie als Eine zu fassen, im physikalischen Sinne als eine bestimmte Zahl von Atomen, eine bestimmte Menge von Energie. Daran ändert es gar nichts, dass wir ein Ende des Raumes uns nicht vorzustellen vermögen. Am allerwenigsten können wir über Weltanfang und -Ende in der Zeit etwas aussagen, denn das glaube ich auch, dass so- der Hand. Aber auch wenn sie nur Formen der An- schauung sein sollen, so muss doch ihre Modifikation einer Modifikation der Wirklichkeit entsprechen. Wir sind selbst ein Theil der Welt, und unsere Anschauungs- formen müssen als ein Product der Welt gedacht werden, als ein Oefäss, das nicht willküriich, sondern als Negativ der Realität geformt worden ist. Können Digitized by Google 190 4. Drei Gespräche über Metaphysik. wir ein zuverlässiges Urtheil über die Welt abgeben, so braucht es uns nicht zu stören, dass Jemand, der andere Anschauungsformen hätte, das Urtheil in ande- rer Sprache geben würde. Nicht daran, dass die Realität in unsere Anschauungsformen eingehen muss, liegt es, wenn wir auf Antinomieen stossen, sondern daran, dass die Individualität überhaupt sich nur i m Ganzen, aber nicht über das Ganze orientiren kann. Sollte diese Auffassung mit der Kants übereinstimmen, so habe ich natürlich nichts einzuwenden. Gustav: Darüber kann ich freilich nichts sagen, aber was geht uns schliesslich die Geschichte der Philosophie an? Mir kam die Erinnerung an die An- tinomieen nur so nebenher. Theodor: Out, sorgen wir uns jetzt nicht um fremde Gedankengänge. Nur das will ich noch sagen, dass wir nicht nur jede Kosmogonie, sondern auch jede Eschatologie ablehnen müssen. Was der End- zweck des Geschehens sei, darüber kann nur die falsche Metaphysik reden. Gustav: Das wohl, jedoch bleibt ein Aber. Wenn nicht vom letzten Ende, so doch von den nächsten Zielen möchte man etwas wissen. Wir wollen doch sozusagen mit am Karren schieben und müssen daher ungefähr wissen, wohin die Reise geht. Theodor: Ich glaube nicht, dass eine Metaethik in dem Sinne möglich sei, dass unter ihr eine be- wusste Förderung der höheren Zwecke verstanden wird. Dass das irdische Reich in einem ähnlichen Sinne wie der Mensch eine beschränkte Lebensdauer Digitized by Google 191 4. Drei Gespräche über Metaphysik. habe, das können wir unbedenklich annehmen. Wie der Mensch sein individuelles Seelenleben erst allmäh- lich gewinnt, so muss mit der Entwickelung des Lebens auf der Erde auch ihr inneres Leben sich erst allmäh- lich entfaltet haben. Wie der Mensch altert und stirbt, so wird wahrscheinlich auch die Erde altem und sterben. So fassen ja auch in ihrem Sinne die Physiker die Sache auf. Indessen ist mit diesen weitausgreifenden Gedanken im Sinne einer Metaethik nichts gewonnen. Ob die geschichtliche Betrachtung, d. h. unsere Kennt- niss von den Schicksalen des Menschengeschlechts, uns einen zuverlässigen Wegweiser für die Zukunft gebe,, das kann auch bezweifelt werden. Wir mOssten doch sagen können, in diesem Volke und zu dieser Zeit sind diese und diese Ziele zu erreichen. Wer aber vermöchte im gegebenen Falle eine Antwort zu geben, die mehr als eine Glaubensmeinung wäre? Auf jeden Fall kann die Metaphysik nur dazu führen, gegen die aus historischen oder sociologischen Erwägungen ge- wonnenen „Völkerziele" oder gar „Menschheitziele" be- denklich zu machen, denn sie zeigt eben die Compli- cation der Bedingungen, sie zeigt, dass die Mensch- heit ebensowohl Mittel als Zweck ist, und dass die Zwecke, denen Menschen und Völker dienen, von uns nicht begriffen werden können. Gustav: Ich erinnere mich aber, früher einmal von Dir gehört zu haben, wir müssten die Veredelung der Art als Ziel betrachten. Theodor: Es ist richtig, ich habe das gesagt, und zweifellos steht dieses Ziel unter den uns erkenn- Digitized by Google 192 4. Drei Gespräche über Metaphysik. baren und von uns förderbaren oben an. Es ist je- doch ersichtlich, dass die Entwickelung des Ganzen nichts weniger als ausschliesslich die Veredelung an- strebt, denn das Auf und Ab der Menschengeschichte ist weder ein Aufsteigen in gerader Linie, noch ein solches in Spiralen, wie manche erzkluge Leute wissen wollen. Die Völker gedeihen und verderben. Wir wissen nicht, auf welchem Punkte der Bahn wir stehen, und ob es aufwärts oder abwärts geht, d. h. ob zur gegebenen Zeit die Veredelung mit Erfolg angestrebt werden könne oder nicht Aber trotz unserer Un- wissenheit bleibe ich dabei, dass wir nichts besseres thun können, als nach dem besseren Menschen zu streben. Nur muss man praktische Regeln und theo- retische Erwägungen nicht vermengen; jene wollen das relativ Beste und müssen positiv sein, diese dürfen sich vor dem non liquet nicht fürchten. Gustav: Die Metaphysik ist also dem Handeln- den keine Stütze und — Theodor: Nicht also. Eine rechte Stütze ist sie schon, denn sie lehrt Demuth und Vertrauen. Auch die physikalische Betrachtung zeigt uns unsere Klein- heit und mahnt insofern zur Demuth, aber sie nimmt uns das Vertrauen und drückt uns zu Boden. Wenn über uns ein höherer Wille waltet, und unser Wille ein Theil dieses Willens ist, so sind wir vor der Ver- zweiflung gerettet. Auf Gott vertrauen und nach bestem Wissen und Gewissen handeln, das ist das Einzige, was uns ziemt. Gustav: Wunderlich! Wir fliegen auf, durchmes- Digitized by Google 193 4. Drei Gespräche über Metaphysik. sen weite Kreise und sind am Ende bei der schlichten Weisheit unserer Väter angelangt. Theodor: Oott sei Dank, dass es so ist. Und nun zum Schlüsse nur noch eine Bemerkung. Im Theoretischen giebt es kein Nachgeben, da müssen wir uns der Katechismus-Pfaffen ebenso erwehren wie der Laboratorium-Pfaffen, und ein tiefer Graben trennt uns von der alten Metaphysik. Stehen wir jedoch im Leben, so kommt es auf das Endergebniss an, und da mögen wir wohl Denen die Hand reichen, die wir sonst bestreiten, wenn nur ihr letzter Schluss mit dem unseren übereinstimmt. Jeder, der noch einen Glau- ben, d. h. eine Metaphysik, hat, steht mir da näher, als die trockenen Schleicher, die nur Spott und Hohn für das haben, was sie nicht ausrechnen können. Siehst Du, so knüpft uns doch ein Band des Herzens an die alte Metaphysik, die Du so arg gescholten hast. Gustav: Recht sollst Du haben. Möbius, Werke. VI. 13 Digitized by Google Digitized by Google V. lieber den Zweck des Lebens. 13* Digitized by Google Digitized by Google 197 V. Ueber den Zweck des Lebens. Die Rede von einem Zwecke des Lebens kann zweierlei bedeuten, einmal, dass der Mensch im Leben einen Hauptzweck verfolge, zum anderen, dass das Leben ausser den Zielen, die der Mensch sich setzt, einen Zweck habe. Wenn man von Einem sagt, dass er ein zweck- loses Leben führe, so meint man, dass es ihm an einem Hauptzwecke fehle, nicht, dass er überhaupt keine Zwecke verfolge. Es ist ja im Grunde Handeln und Zweckverfolgen dasselbe, derart, dass das ganze be- wusste Leben aus Zwecken besteht Die Meinung, dass man nur da von Zwecken reden solle, wo das Ziel nicht sofort, sondern erst in Absätzen, durch Mittel erreicht werden kann, ist zu verwerfen, denn auch eine einfache Abwehrbewegung ist eine Hand- lung oder ein Zweckverfolgen, wenn nur das Ziel vor- her gedacht worden ist. Man kann sich auch so aus- drücken, da^s man sagt: es giebt im Geistigen nur causae finales, oder: soweit wie ein seelischer Zu- sammenhang zu erkennen ist, wird er durch Zwecke gegeben, eine geistige Ursache ist stets das gedachte Ziel, der Zweck. Digitized by Google 198 V« Ueber den Zwedc des Lebens. Jemand könnte behaupten, der Hauptzweck des Menschen und aller Wesen überhaupt sei die Lust Das jedoch wäre ein Missverständniss, denn damit wäre sächlich gar nichts gesagt Freilich kann man ohne Lust nicht wollen, aber Wollen ist eben nichts Anderes als Bejahen, und man muss immer etwas wollen, es kommt darauf an, was Lust macht Sieht man genauer zu, so findet man, dass nicht alles menschliche Thun Handeln genannt werden kann, dass ausser den eigentlichen oder Willkürhandlungen viele mehr oder weniger unwillkürliche Thätigkeiten vorkommen: Bewegungen, bei denen anscheinend gar keine seelische Veränderung vor sich geht, wie das Schliessen des Auges beim Herannahen eines G^en- standes, und Triebhandlungen, die zwar in der R^el von Lust begleitet sind, bei denen aber das Bewusst- sein des Zieles fehlt, wie das Aufsuchen weiblicher Personen beim Erwachen des Geschlechtstriebes. Das aber ist zu beachten, dass die verschiedenartigen Thätig- keiten durchaus nicht immer streng von einander zu trennen sind, d. h. dass Uebergänge zwischen unwill- küriichen und willküriichen Thätigkeiten vorkommen, und dass alle zweckmässig sind. Das Wort zweck- mässig kann zweifach gedeutet werden, es kann be- deuten nach dem Maasse einer Zweckhandlung oder geeignet zur [Erreichung eines Zweckes. Die erste Bedeutung ist bei den unwillküriichen Thätigkeiten an- gebracht, es wird verfahren, als ob ein Zweck verfolgt würde. Man kann Trieb oder Instinkt kurz bestimmen als zweckmässiges Handeln ohne Zweck. Im Laufe Digitized by Google 199 V. Ueber den Zwedc des Lebens« der Entwickelung kann der Zweck in das individuelle Bewusstsein eintreten, das erst triebmässig Erstrebte kann bewusst erstrebt werden, ohne dass doch an der Art der Handlung etwas Wesentliches anders würde. Die beim Menschen von innen her zu beobachtenden Ueber- gänge zwischen dem nur zweckmässigen Geschehen und dem bewussten Zweckverfolgen müssen von vorn- herein die Vermuthung erwecken, dass überhaupt Zweck- mässigkeit und Zweckhandeln prinzipiell nicht ver- schieden seien. Immerhin ist beides begrifflich zu trennen. Insbesondere ist der Hauptzweck, den sich ein Mensch bewusst vorsetzen mag, nicht dem Zwecke oder den Zwecken gleichzusetzen, die er unwillküriich ver- folgt. In der Kindheit und in unreifen Zuständen überhaupt spielen die bewussten Zwecke keine grosse Rolle. Es hängt von den Umständen ab, ob dies oder jenes erstrebt wird, und in der Regel handelt es sich nur um kurze Fristen, es ist noch keine Rede von zusammenhängenden und weitgreifenden Bestrebungen. In der Regel ist es so, dass sich nach Zeit und Um- ständen die grossen Triebe r^en, und dass die be- wusste Thätigkeit dazu dient, das unwillküriich Be- gonnene weiterzuführen, zu ergänzen, zu verfeinern. Es handelt sich da um Abwendung von Gefahren, Aufsuchen der Nahrung, geschlechtliche Beziehungen, Sorge um Kinder, gesellschaftliche Instinkte u. s. w. Je mehr sich der individuelle Geist entwickelt, um so grösser und bedeutungsvoller wird der Antheil der Willkür an der menschlichen Thätigkeit, doch wird i Digitized by Google 200 V. Ueber den Zwedc des Lebens. trotzdem bei der Vielheit der Bedürfnisse und der An- lagen der Anschein eines zerstäckelten Wesens nicht ausbleiben. Einheitlichkeit der Lebensführung wird am leichtesten da erreicht werden, wo ein Trieb oder eine Thätigkeit so sehr hervorsteht, dass ihm oder ihr die Führung zufällt Stellt sich dann die Willkür an die Spitze des schon marschirenden Haufens, so sieht es so aus, als ob der Mensch sich einen Haupt- zweck des Lebens gesetzt hätte. Es heisst dann, das Leben ist dazu da, um die Feinde zu bekämpfen, oder, um Geld zu verdienen, oder, um Mathemathik zu treiben, oder, um Bilder zu malen u.s.w. Sind schon solche Erscheinungen verhältnissmässig selten, so mag es noch seltener vorkommen, dass ein bestimmter Ge- danke das Leben beherrscht, dass Einer sich klar eine Lebensaufgabe stellt und ihr sein Leben widmet Hier- her darf man Die nicht zählen, die immer bei einer Arbeit bleiben, weil sie nichts Besseres wissen. Nach alledem kann von einem Zwecke des Lebens, den der Mensch sich stellt, nur ausnahmeweise ge- redet werden. Wir werden mehr getrieben als wir treiben, um so mehr müssen wir danach fragen, ob das, was treibt, einen Zweck habe. Man kann sich zu der Frage nach einem Zwecke des Lebens im zwei- ten Sinne, der von nun an immer gemeint sein soll, verschieden stellen, man kann sie abweisen, verneinen, bejahen. Wer die Frage abweist, der wird sich darauf her rufen, dass sie transscendent sei, dass sie über die Grenzen unseres Wissens hinausgreife. Das muss man Digitized by Google 201 V. Ueber den Zweck des Lebens. freilich zugeben, aber alles eigentlich Interessante ist transscendent, und im Grunde wäre es ein entsetzlich stumpfsinniges Leben, wenn wir uns auf das wirklich Wissbare beschränken wollten. Es ist auch gar nicht einzusehen, warum wir nicht auf dem Grunde des Wissbaren Vermuthungen über das Verborgene auf- stellen und ihre Wahrscheinlichkeit erörtern sollten. Will Jemand nicht mitmachen, so kann er ja seinen Blick wegwenden. Die Verneinung könnte vielleicht in folgender Weise ausgesprochen werden. Das Zwecksetzen ist eine Eigen- art des bewussten Lebens. Das Bewusstsein ist aber eine Funktion des Himmantels und demnach auf die Menschen und die Thiere, die einen Himmantel haben, beschränkt. Der Kampf ums Dasein hat bei den höhe- ren Thieren das Großhirn so weit entwickelt; aber vor der Entstehung des Himmantels kann von Zwecken keine Rede sein, ja es wäre lächerlich, das, was nur vermöge der Gehirnthätigkeit besteht, ausserhalb des Gehirns zu suchen. Es mag einem wohl passiren, dass er von der Absicht der Natur oder von dem Streben der Entwicklung spricht, aber der wissenschaft- liche Mensch weiss, dass das Redensarten, Anthropo- morphismen sind. Die Natur ist im strengen Sinne des Wortes sinnlos, denn in ihr giebt es nur einen (Kausalzusammenhang vermöge der Naturkräfte oder, was dasselbe ist, der Naturgesetze. Sinn, Absicht, Zweck ist der Natur vollkommen fremd, und auch das menschliche Leben kann keinen Zweck haben, ob- wohl es in ihm Zwecke giebt. Die Verneinenden mögen Digitized by Google 202 V. Ueber den Zwedc des Lebens. sich nicht immer so unumwunden ausdrücken, aber sie müssen grundsätzlich das Gesagte biUigen, da ihr Prinzip, die in der Physik geltende Auffassung für die allein berechtigte zu erklären, keinen anderen W^ offen lässt Die Bejahenden dag^en theilen sich in verschie- dene Gruppen. Ist es auch nicht möglich, alle An- schauungen wiederzugeben, so möchten doch zwei Auffassungen besonders zu beachten sein. Man kann vom Standpunkte der gewöhnlichen Naturbetrachtung aus die Ansicht vertheidigen, dass die Entwickelung der Dinge einen von vornherein be- stimmten Lauf nehme, auf Ziele gerichtet sei. Im All- gemeinen ergiebt die Beobachtung kein regelloses Hin und Her, sondern einen Fortgang vom Verschwom- menen, Formlosen zum Gegliederten, Formreichen. Die Erde ist ursprünglich ein Ball aus mehr oder weniger gleichmässiger Masse gewesen, aber im Laufe der Zeit hat sie sich entwickelt, hat sich in ein organisches und ein unorganisches Reich gespalten, hat hier im im Festen, Flüssigen und Luftförmigen Mannigfaltigkeit gewonnen, hat dort im Pflanzen- und im Thierreiche eine überaus reiche Formenwelt entstehen lassen. Aus der anscheinend gleichförmigen und gestaltlosen Masse des Eies bildet das Hühnchen seinen gegliederten Körper aus. Es ist ersichtlich, dass die uns bekannten Natur- gesetze alles das nicht erklären können. Wenn bei einem von äusseren Einflüssen unabhängigen Systeme uns Grösse, Abstand und Bewegungzustand der Massen bekannt sind, so können wir (die nöthige Erkenntniss Digitized by Google 203 V. lieber den Zweck des Lebens. vorausgesetzt) sagen, was aus dem Systeme werden wird, denn die Naturgesetze lehren, dass auf einen bestimmten Zustand ein bestimmter anderer Zustand folgt. Aber was eigentlich wird, das hängt doch nicht von den Gesetzen ab, sondern von dem Anfang- zustande. Bei dieser Auffassung ist der Weltlauf in der Zeit nur eine Auseinanderwickelung. Was in jedem Augenblicke ist und geschieht, muss so sein und geschehen, weil es nur eine Wirkung des früher Gewesenen ist Zwar führt die Betrachtung auf einen regressus in infinitum, nimmt man aber der Bequemlichkeit halber an, die Welt habe einen Anfang gehabt, so war alle Entwicklung schon in ihm be- schlossen, und von den räthselhaften Conditiones pri- mae hängt alles ab, was uns heute in Verwunderung setzt Entdecken wir Zweckmässigkeit oder „Zielstrebig- keit" in der Natur, so gehört sie eben zum Wesen der Dinge und ist so wenig erklärbar wie das Dasein der Welt überhaupt Bei dieser Denkweise hat das Leben des Einzelnen den Werth eines Kettengliedes, und wenigstens im uneigentlichen Sinne könnte von einem Zwecke des Lebens gesprochen werden. Immerhin kommt man damit nicht über nebelhafte Allgemein- heiten hinaus. Ergiebiger sind andere Betrachtungen. Wir haben den Zweck in uns als eine Form der geistigen Thätig- keit gefunden. Soll es ausser uns Zwecke geben, so muss es auch geistige Thätigkeit ausser uns geben, und gehen Zwecke durch die ganze Welt, so muss auch die geistige Thätigkeit durch die ganze Welt Digitized by Google er 204 V. Ueber den Zweck des Lebens. gehen. Wenn ich an einem Apfelbaume einen schönen Apfel entdecke, mir vornehme, ihn zu pflücken und zu essen, durch den Diener eine Leiter holen lasse, dann die Leiter besteige, den Apfel pflücke und schliesslich esse, so laufen währenddessen in meinem Gehirne ver- schiedene Vorgänge ab, die die materielle Seite des geistigen Geschehens darstellen, es im Wahrnehmbaren repräsentiren und als psychophysische Bew^fungen bezeichnet werden. Könnte jemand diese Gehimvor- gänge genau verfolgen, so würde er durchaus keinen wesentlichen Unterschied zwischen ihnen und anderen physikalischen Vorgängen finden, er hätte eine Kette kausal verknüpfter Bewegungen vor sich, die ebenso von den Naturgesetzen abhängen wie irgend ein anderer Vorgang in der Natur. Es ergiebt sich ohne weiteres, auch für Den, der die Identität der geistigen und der materiellen Vorgänge nicht anerkennen mag, sondern nur zwei gesetzlich verknüpfte Reihen anerkennt, dass in diesem Falle je nach dem Standpunkte dasselbe Ereigniss bald als ein Zweckverfolgen, bald als kausale Entwickelung erscheint Wenn dies aber einmal mög- lich ist, so ist grundsätzlich zuzugeben, dass überhaupt die Vorgänge in der Natur uns als Zweckverfolgungen erscheinen könnten, wenn es uns nur gelänge, ihnen g^enüber den inneren Standpunkt einzunehmen, wie wir den Himvorgängen g^enüber auf dem inneren Standpunkte stehen. Haben wir Grund, das Wahr- genommene und die naturwissenschaftlich daraus er- schlossenen Bewegungen im Räume, kurz die objective Welt als Erscheinung eines Subjektiven, also des Welt- Digitized by Google 205 V. Ueber den Zweck des Lebens. geistes anzusehen, so muss alles ausser der causa auch einen finis haben, denn alles geistige Geschehen ist ein Gewebe von Zwecken, und soweit wie der Geist reicht, soweit giebt es Zwecke. Wir müssen uns dann vorstellen, dass wie unser Leib einem grösseren Ganzen eingewachsen ist und den Gesetzen dieses Ganzen unterliegt, ebenso unser geistiges Wesen das Organ eines geistigen Organismus ist und in seinen Zusam- menhang hineintritt. ^) Unter dieser Annahme erlangen wir auch davon eine Ahnung, was der Instinkt, das zweckmässige Handeln ohne Kenntniss des Zweckes *) Variante. Man könnte den Gedankengang anch in folgen- der Weise fassen. Wir wissen, dass es ein Zweckveriolgen giebt, nämlich in uns selbst. Wir glauben, dass äussertich oder materiell dieselben Vorgänge als eine kausal vermittelte Reihe von Bewegungen er- scheinen, oder doch mit solchen unauflöslich verknüpft sind. Wir nehmen daher mit gutem Grunde an, dass beide Reihen nicht grundsätzlich versdiieden seien, dass mithin physikalisdie Vor- gänge überhaupt als Erscheinung von Zweckreihen angesehen werden können. Wir verlangen aber nicht, dass anderweit die Erfahrung uns davon überzeuge, weil wir aus Erfahrui^ wissen, dass das Innewerden des Zweckes nur vom Standpunkte des Ichs aus möglich ist, wir aber diesen Standpunkt nur einem Kreise gegenüber einnehmen können. Es bleibt daher nichts anderes übrig, als Zwecke da zu erwarten, wo wir ein Ich, d. h. ein Be- wusstsein oder einen analogen Zustand voraussetzen dürfen. Da uns nun Erwägungen anderer Art nöthigen, im gleichen Sinne, wie wir unser materielles Dasein als Bestandtheil eines mate- riellen Ganzen betrachten, unser geistiges Dasein als Theil eines geistigen Ganzen anzusehen, und da wir in dem irdischen Reiche und weiterhin im Planetensysteme individuell abgeschlossene Digitized by Google 206 V. Ueber den Zweck des Lebens. sei. Es fällt nämlich einfach in das Bewusstsein des instinktiv Handelnden nur ein Theil des Vorganges, der eigentlich Handelnde benutzt ihn nur als Organ. Bedenkt man, dass gerade bei niedrig stehenden Thieren, deren Bewusstsein wir nicht viel zutrauen können, die erstaunlichsten Instinkthandlungen vorkommen (z. B. bei den Schlupfwespen), so muss man eigentlich von selbst auf den Gedanken kommen, das individuelle Bewusstsein sei nicht das eigentlich Handelnde. Wenn wir nun nach der geistigen Seite hin einer Welt der Zwecke angehören, so ist nicht nur ersicht- lich, dass auch durch unser Leben Zwecke verfolgt werden, sondern wir gewinnen auch ein Verständniss dafür, dass unser Leben als Mittel für höhere Zwecke dienen kann. Wer an der Meinung festhält, der Mensch sei „Selbstzweck", und es gebe über den Menschen hinaus kein geistiges Wesen, Den muss die Frage nach dem Zwecke des Lebens in Verl^enheit bringen. Denn nur zu unserem Vergnügen sind wir schwerlich auf der Welt, wozu aber sonst? Zwar dürfen wir, da doch unser eigenes Handeln nicht immer zweck- mässig ist, auch draussen vollkommene Zweckmässig- keit nicht verlangen, aber wir können nicht das für einen Zweck halten, was in der grossen Mehrzahl der Fälle nicht erreicht wird. Wollte z. B. jemand die Einheiten erkennen, so erblicken wir in diesen die Vertreter der uns übergeordneten Bewusstseinseinheiten, ohne damit die Mög- lichkeit zwischengeordneter Einheiten leugnen zu wollen, und ohne zu vericennen, dass ein Abschluss erst in einem alles um- fassenden Geiste zu erreichen ist Digitized by Google 207 V, Ueber den Zweck des Lebens. sittliche Vervollkommnung für den Zweck des Lebens halten, so müsste man ihn darauf hinweisen, dass in der Regel von ihr nichts zu spüren ist. Am häufigsten wird wohl die Förderung der Kultur als Lebenszweck angesehen. Daran mag wohl eher etwas sein, jedoch führt diese Auffassung schon über den Menschen als Selbstzweck hinaus. Denn die Menschen haben eigent- lich von der Kultur nicht viel Vortheile. Die Kultur- völker gehen an ihrer Kultur zu Grunde, und das Le- ben wird immer mühsamer und ernster. Es heisst oft, das gereiche der Menschheit zum Vortheile. Aber die Menschheit ist im Sinne der Redenden ein blosses Abstractum, weiss nichts und fühlt nichts. Dagegen könnte ein höheres Bewusstsein in der That von manchem Vortheil haben, was den einzelnen Men- schen nur scheinbar nützlich ist. Die Menschen sind z. B. besonders stolz auf die Steigerung des Verkehrs, auf Post und Bahn, Telegraph und Telephon u. s. w. Abgesehen davon, dass durch das viele Herumfahren niemand glücklicher oder besser wird, ist der ideelle Erfolg, die Steigerung der geistigen Regbarkeit, für den Einzelnen von zweifelhaftem Werthe. Aber vielleicht ist die Vermehrung der Verbindungen und damit der Lebensthätigkeit überhaupt für den Geist, dessen Or- gane die Menschen nur sind, von viel grösserem Vor- theile als für diese. Wie in diesem Falle wird auch in anderen der Werth der Kulturgüter durch die Vor- aussetzung eines übergreifenden Bewusstseins erst recht einleuchtend. Man kann über diese Dinge ver- schieden denken, und es soll auf die vorgebrachten n Digitized by Google 2oa V. Ucbcr den Zweck des Lebens. Bemerkungen nicht allzuviel Nachdruck gel^ werden, aber auf jeden Fall wird es gut sein, sie in Erwägung zu ziehen und nicht zu vergessen, dass bei den Werken der Menschen möglicherweise der Meister die Men- schen nur als Handlanger benutzt, wie es früher hiess: gesta Dei per francos. Wir bauen die Eisenbahnen, sagen wir gewöhnlich, man könnte aber ebensogut sagen: die Erde baut sich die Eisenbahnen durch die Menschen. Dabei ist nicht zu vermeiden, dass auch dem höheren Geiste Widerstreit und Unvollkommen- heit zugemuthet werden, aber das ist Oberhaupt nicht zu vermeiden bei der Einrichtung der Welt. Immerhin mag von einem höheren Standpunkte aus manches weniger schrecklich oder thöricht erscheinen, als es uns erscheint, da sich dann ungeahnte Zusammen- hänge und Ausgleichungen ergeben mögen. Bei aller Anerkennung der Kulturwerthe und der menschlichen Leistungen Oberhaupt darf man sie doch wohl nicht als die Hauptsache ansehen. Der Haupt- zweck des Menschen ist doch wohl sein Dasein. Es steht in dieser Hinsicht mit dem Menschen nicht an- ders als mit den übrigen Thieren und den Pflanzen. Man kann wohl sagen, die Pflanzen sind für die Thiere da, die eine Thierart für die andere, aber das Ganze wäre doch sinnlos, wenn nicht alle Wesen zusammen durch ihr Dasein einen Zweck erfüllten. Jede Art ver- mehrt sich so stark, wie es die Umstände erlauben, und sowohl das Thierreich wie das Pflanzenreich faltet sich in unzählige, nach allen Richtungen hin verschie- dene Arten auseinander. Man geht daher wahrschein- "D Digitized by Google 209 V. Ueber den Zweck des Lebens. lieh in der Annahme nicht fehl, dass möglichst viel und möglichst mannigfaltiges Leben gewollt werde, dass, je reicher sich das Leben in den irdischen In- dividuen entfaltet, um so reicher der Gewinn des höheren Geistes sei. Wenn es von einem Menschen auch nur heisst: er lebte, nahm ein Weib und starb, so hat er doch das Seinige gethan. Es kann nicht nur Leben überhaupt gewollt wer- den, sondern es müssen auch die besonderen Formen, die wir sehen, einem Zwecke entsprechen. So im Menschlichen die Rassen, Völker, Stämme, bis herab zum Individuum. Natürlich fragt man, wie kommt es zu den entarteten Individuen, zu den Kranken und den Schlechten? Man kann dem gegenüber nur darauf hin- weisen, dass auch unser guter Wille nicht ungehemmt schaltet, dass auch ein höherer Wille gesetzlichen Zu- sammenhängen gegenüber stehen werde, die ihm die Richtung weisen und ihn in gewissem Sinne hemmen. So wenig, wie unser Wachsen willkürlich ist, wird das Geschehen in dem uns übergeordneten Reiche will- kürlich sein. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass dem unvermeidlich Entstandenen gegenüber ein auf zweckmässige Veränderungen gerichtetes Streben stehe. Wie wir im Einzelkörper die vis medicatrix na- turae bewundern, so finden wir auch im Gesammt- körper Heilbestrebungen, denn wie die Entartung wächst, so nimmt im allgemeinen die Fruchtbarkeit ab, bis der verdorbene Zweig verdorrt ist Wahr- scheinlich läuft das Unvermeidliche immer neben dem Gewollten her. Deshalb, und weil wir alles nur von Möbitts, Werke. VI. 14 Digitized by Google CT 210 V. Ueber den Zweck des Lebens. etnem Winkel aus sdien, dürften unsere Deutungen nicht viel zu bedeuten haben. So möchte es auch eine Vermessenheit sdn, den Sinn der geschichtlichen Vorgänge erkennen zu wollen, obwohl wir doch, wenn Oberhaupt die Welt eine geistige Seite hat, sie nicht für sinnlos halten können. Nach alledem kann auf die Frage, was der Zweck des menschlichen Lebens sei, nur mit Möglichkeiten geantwortet werden, wir müssen uns in der Haupt- sache damit begnügen, dass die allgemeinen Erwä- gungen uns zu der Annahme berechtigen, es gebe überhaupt einen Zweck des Lebens. Wie oft drängt sich der Gedanke auf: wozu das Alles, warum die ganze Schererei? Und in der That die Betrachtung des Lebens, „wie es isf *, vermag es nkht zu rechtfer- tigen. Da ist es denn doch ein Trost, sich sagen zu können: Wir dienen dner grösseren Sache, auch da, wo wir nicht wissen, wieso. Wäre die grauenhafte Vorstellung von der sinnlosen, nur physikalischen Welt berechtigt, so hätten wir reichlichen Grund, zu verzweifeln. Sind wir aber in einen grossen Zweck- zusammenhang eingefügt, so mögen wir Hoffnung fassen. Man erträgt ja auch sonst manches, wenn nur die Sache überhaupt einen Sinn hat. Digitized by Google VI. lieber den Anthropomorphismus. 14* Digitized by Google Digitized by Google 213 VI. Ueber den Anthropomorphismus. Die Frage nach dem Anthropomorphismus scheint mir die wichtigste in der Philosophie zu sein. Ver- menschlichung könnte man im Deutschen sagen. Wir formen nicht nur unsere Götter, sondern die Welt Oberhaupt, ohne es zu wissen, nach unserem Bilde, glauben, solide Erkenntniss zu haben, und erkennen dann mit Schrecken, dass überall unsere eigene Ge- stalt uns entgegentritt, so dass wir uns vorkommen, wie in ein Spiegelkabinet eingeschlossen. Der Anthropomorphismus hat ursprunglich die Gedankenwelt aufgebaut, und seiner Bekämpfung ist seit Jahrtausenden das wissenschaftliche Bestreben gewidmet Der Mensch schuf die Welt nach seinem Bilde; wie konnte er anders? Ursprünglich werden sich die Menschen wohl ähnlich verhalten haben, wie die Kinder sich heute noch verhalten. Das Meiste wurde nicht beachtet, was aber ihre Aufmerksamkeit erregte, wurde mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet So haben wahrscheinlich die Menschen im Anfange gesagt: „Er donnert''; denn das „Es donnerf' setzt schon eine beträchtliche Loslösung voraus. Wie aber das Kind nur im Anfange die Tischecke schlägt, an Digitized by Google 214 VI. lieber den Antbropomorphismvs. der es sich gestossen hat, so muss ein Theil des naiven Anthropomorphismus früh als unzulässig er- kannt worden sein; und die Bildung des Neutrum ist ein bemerkenswerthes Kennzeichen auf diesem W^e. Freilich: da und dort wurde eine Correctur angebracht, jedoch im Grunde änderte man an der alten Auffas- sung nicht allzu viel Gerade in der Sprache trat die anthropomorphistische Denkweise hervor, und in ihr hat sie bis auf den heutigen Tag den stärksten Rück- halt Der Anthropomorphismus entspricht den Bedürf- nissen des Gemfithes, und er herrscht deshalb in allen Religionen. Schon deshalb hat die Wissenschaft einen irreligiösen Charakter; und thatsächlich sind die gei- stigen Richtungen, die bewussterweise gegen den Anthropomorphismus ankämpfen, immer besonders religionfeindlich gewesen, von Demokrit an bis auf den heutigen Tag. Das „bewussterweise** ist freilich cum grano salis zu verstehen, denn den Früheren hat eine klare Einsicht in das Problem fast immer gefehlt, obwohl einfache Nachdenken Vieles klar machen konnte Die herkömmliche Ansicht, die auch heute noch vorzuherrschen schant, geht dahin, dass der Anthropomorphismus überhaupt zu verwerfen sa; aber eine grundsätzlidie Prüfung, was etwa zu ihm gehöre, vermisst man. Noch weniger wird die Frage aufee- worfen, ob und wie wdt der anthropomorphistischen Auffassung doch ein Redit zukommen möchte. Jene blinde Abneigung gegen den Anthropomorphismus verträgt sich sehr wohl mit Befangenheit in anthropo- morphistischoi Gedanken, vorausgesetzt, dass diese Digitized by Google 215 VI. Ueber den Antiiropomorphismus. dem allgeiTKinen Denken nicht als solche erkennbar sind. So kommt es, dass die beiden Hauptbegriffe, mit denen die populären Materialisten wirthschaften, zwei Anthroponnnphrsmen smd: Kraft und Materie. Will man Klariieit haben, so muss man Physik und Metaphysik streng trennen. In jener hat der An- tin-opomorphismus nichts zu suchen, imd insofern ist seine grundsätzliche Ablehnung berechtigt. Man kann die Physik definiren als die Lehre von dem gesetz- mässigen Zusammenhange der Wahrnehmungen; sie erfüllt ihre Au^be, indem sie angiebt, unter welchen Bedingungen diese oder jene Wahrnehmung eintritt oder eintreten könnte, und ihr Grundbegriff ist das Gesetz. Thatsächlich hat sich die Physik im Laufe der Zeit mehr und mehr von anthropomorphistischen Auffassungen freigemacht; sie verwendet zwar die alten Ausdrücke noch, giebt ihnen aber einen solchen Sinn, dass sie unschädlich werden. Der Begriff der Kraft spricht nur den gesetzlichen Zusammenhang aus. Dass zwei Körper ihre Lage ändern nach Masse und Abstand, heisst die Kraft der Gravitation; und auch wer geneigt wäre, den Körpern Anstrengung und Ver- langen zuzuschreiben, muss praktisch hnmer auf das Gesetz zurückkommen. Sieht man im Worte nur eine Scheidemünze, so kann man auch imbedenklich sagen, ein Körper sei bestrebt, zu fallen. Das heisst: er werde fallen, wenn bestimmte Bedingungen eintreten. Auch die Zurückführung von Ursache und Wirkung auf die regelmässige Wiederkehr unter bestimmten Umständen leuchtet leicht ein. Wir kennen Ursache und Wirkung h Digitized by Google 216 VI. Ueber den Antfaropomorphismus. aus unseren Beziehungen zur Welt und wollen, wenn wir eine Veränderung Wirkung nennen, sagen, sie folge so auf eine andere, wie Veränderungen draussen auf unseren Willen hin erfolgen. Dass wir zwischen den Objecten kein Erfolgen wahrnehmen, sondern nur ein Folgen von gleichen Veränderungen auf gleiche Be* dingungen, von abgeänderten Folgen auf verschiedene Bedingungen, dass also das Setzen einer Ursache ein Anthropomorphismus ist, kann Niemand verkennen. Schwerer wird die anthropomorphistische Beschaffen* heit des Begriffes der Materie zugestanden werden. Doch giebt Jeder zu, dass man die Materie nicht wahrnehmen könne, dass sie also etwas Hinzuge- dachtes sei. Aber, sagt man, wenn wir auch nur Veränderungen wahrnehmen, so muss sich doch Etwas verändern, es muss ein Subject der Veränderungen geben. Ist es aber nicht offenbar, dass das Verhält- niss von Subjekt und Prädikat nur aus der inneren Erfahrung stammt? Nur weil wir selbst Subjekte sind, können wir draussen welche suchen, und die Materie ist nur die Ergänzung zum Ich. Was von der Materie gilt, gilt auch von der Substanz und dem Accidens, vom Dinge und seinen Eigenschaften. Ausserdem führt jede begriffliche Verfolgung der Materie auf Un- möglichkeiten. Die sogenannte dynamische Auffassung will die Materie durch krafterffillte Räume, durch Kraft- punkte oder Dergleichen ersetzen. Da aber die Kraft nur ein Anthropomorphismus ist, eriedigt sich der Dynamismus von selbst Die Vorstellung, dass die Materie den Raum stetig erfülle, ist ganz unvollziehbar. "D Digitized by Google 217 VI. Ueber den Anthropomorphismus. Denkt man sich die Materie diskret, so wird durch fortschreitende Theilung die Noth herbeigeführt, denn man endet unvermeidlich beim unendlich kleinen Atom. Nun ist dieses zwar in der mathematischen Physik brauchbar, aber es ist undenkbar, denn es wäre eine vollendete Unendlichkeit, also ein Unsinn. Die Auffas- sung Machs und die Energetik Ostwalds haben in neuerer Zeit besonders den Kampf gegen den Anthro- pomorphismus geführt Es ist ersichtlich, dass die physikalische Betrachtung zum Skepticismus, zu der Behauptung, Metaphysik sei unmöglich, führen muss. Zu diesem Ergebnisse war auf anderem Wege Kant gelangt, indem er die Formen der Anschauung und die reinen Verstandesbegriffe als a priori vorhanden, als Bestandtheile der menschlichen Natur, ansehen lehrte. Es ist ja nicht das Selbe, wenn wir Substanz und Eigenschaften, Ursache und Wirkung von inneren Erlebnissen ableiten; aber praktisch kommen wir zu demselben Ausgange wie Kant mit seinen ewigen Begriffen, nämlich dazu, dass die Welt mit Brettern vernagelt ist Kant selbst freilich wies stolz auf seine Hinterthüre hin, auf die Postulate der praktischen Ver- nunft, und meinte, er habe erst den rechten W^ ins Freie gefunden. Wer aber nicht gern durch Hinter- thüren geht, für Den bleibt nur die Verneinung übrig. Das sehen auch manche Schüler Kants ein. Friedrich Albert Lange, zum Beispiele, sagt, man wisse freilich von der Welt nichts, aber man könne sich doch Etwas zusammendichten, und wer Das nicht fertig bringe, könne sich mit Schillers philosophischen Gedichten trösten. Digitized by Google 218 VI. Ucber den Anthropomorphisinus. Die Wissenschaft ist schön, und was die Haupt- sache ist, kann man srch ihr nicht entziehen, man muss mitgehen. Dodi ist nicht zu leugnen, dass sie, weil sie afle metaphysischen Blumen ausrapfte, das Leben zu einer grauenhaften WQste gemacht hat, eine Thatsache, über die weder Kunst- noch Altruismus- Schwärmerei hinw^hilft. Giebt es gar keinen Weg aus der Noth? Wir sind viel bescheidener als die alten Metaphysiker, wir wollen uns mit den Wahr- scheinlichkeiten begnügen, die Kant so sehr verachtete, und mit Wenigem zufrieden sein, wenn es rechtmässig erworben ist Nun ist ersichtlich, dass es ausser der physikalischen und der anthropomorphistischen Be- trachtung keinen W^ giebt, dass also, wenn über- haupt Etwas, nur der Anthropomorphismus über die Physik hinaus helfen kann. Ist er schlechtw^ zu be- kämpfen, wie Viele meinen, so bleibt nur der Skepti- zismus. Aber warum soll es nicht einen berechtigten Anthropomorphismus geben? Es ist doch ein Unter- schied, ob wir kritiklos von uns aus schliessen, oder ob wir es thun, nachdem wir die Sptegehing als solche alcannt haben. Dem imbewussten oder naiven Anthro- pomorphismus sind Wissenschaft und Phik)SO|:^ie mit Recht nachgegangen, ein bewusster oder kritischer Anthropomorphismus ist bisher noch kaum in Betracht gekommen. Wir gehen von der Erwägung aus, dass wir in unseres Vaters Hause sind, dass wir also von der Welt nicht grundverschieden, vielmehr selbst sozusagen eine Probe der Welt sind, daher em Recht haben, vom Digitized by Google c^ 219 VI. Ueber den Anthropomorphismus. Theile auf das Ganze zu schliessen. Wie unser Körper aus denselben Stoffen besteht, die wir ausser uns vor- finden, so werden die B^iffe, die unser Denken füh- ren, auch ausser uns gehen, ja, wir werden sie nur deshalb in uns vorfinden, weil sie Obeiliaupt Geltung haben. Liegt hierin die Rechtfertigung des Anthropo- morphismus überhaupt, so wird für seine Anwendung die R^el des Anatogieschlusses herbeizuziehen sein, dass wir nämlich von Gleichem auf Gleiches, von Un- gleichem auf Ungleiches zu schliessen haben, und das philosophische Denken wird nichts Anderes sein kön- nen als die Bildung vorsichtiger Analogieschlüsse. Von Beweisen kann dabei natürlich nicht die Rede sein, und die Wahrscheinlichkeit wird rasch abnehmen, wenn wir vom Nächstliegenden auf das Fernere kom- men. Man kann beklagen, dass philosophische Ge- wissheit nicht zu erlangen ist, man kann es aber nicht ändern, denn es giebt ausser der Analogie kein^ Weg: man muss ihn gdien oder beim Skeptizismus bleiben. Wie weit die Methode des kritischen Anthropomorphis- mus führen kann und welche Ergebnisse herauskom- men: Das ist früher angedeutet worden. Mir liegt hier zunächst nur daran, zu zeigen, dass Etwas nicht nur deshalb ein Irrthum ist, weil ^ ein Anthropomorphis- mus ist, (kss also die Bekämpfer des Anthropomor- phismus und die Kantianer das Kind mit dem Bade ausschütten. Wenn wir das Recht, von uns auf die Welt zu schliessen, daher ableiten, dass wir Mikrokosmen sind, so ist eine Begegnung mit den „Evolutionisten'' un- Digitized by Google 220 VI. Ueber den Anthropomorphismus. vermeidlich. Die sich so nennen, machen sich wohl in der R^el keine Sorge darum, ob wir von Dingen und von Ursachen ausser uns reden dürfen; kommt aber die Rede darauf, so meinen sie, die innere see- lische Einrichtung des Menschen und der Thiere sei eben auch ein Ergebniss der natOrlichen Entwickelung, und es sei begreiflich, dass das durch die Realität Hervorgerufene auch den Formen der Realität ent- spreche. Gewiss sind wir durch unsere Organisation genöthigt, eine allmähliche Entwickelung der Pflanzen und der Thiere anzunehmen, aber es kommt darauf an, was man sich dabei denkt Leider ist jetzt noch mit dem Begriffe der Entwickelung der des Darwinis- mus verknüpft. Unter Darwinismus verstehe ich die im Sinne des rohesten Materialismus aufgestellte Be- hauptung, dass die Entwickelung auf zufälligen Ab- änderungen beruhe, von denen sich die nützlichen erhalten. Diese kümmerliche Irrlehre, deretw^en uns die Nachwelt bemitleiden wird, kann natürlich nicht mit einer brauchbaren Erkenntnisslehre zusammen be- stehen. Wir könnten nicht empfinden, anschauen und denken, wenn diese Funktionen nicht die der Welt wären, aus der wir entstanden sind. Aus dem Ei entwickelt sich nur deshalb ein Hühnchen, weil das Ei aus einem Huhne stammt. Gerade so müssen wir die Erde als ein nach vorherbestehenden Gesetzen ent- wickeltes Ei ansehen. Oder man kann das irdische Reich einem Baume vergleichen: er braucht zum Wachsen Sonne, Luft und Wasser, sein Wachsthum wird durch diese und jene Einflüsse gehemmt oder "D Digitized by Google 221 VI. Ueber den Anthropomorphismus. gefördert, abgeändert, aber ein bestimmter Baum wird doch nur deshalb zu Stande kommen, weil er in dem Samen vorgebildet war. So mögen all die Umstände, auf die Darwin und seine Schüler hinweisen, in Be- tracht zu ziehen sein, aber sie können uns nie mehr sein als untergeordnete Hilfen, vermöge deren sich die von vorn herein bestimmte, gesetzliche Entwicke- lung verwirklicht. Fasst man so den Menschen als eine Blüthe des irdischen Baumes auf, so begreift man, dass auch in seiner geistigen Struktur die das Ganze regelnden Gesetze zum Ausdruck kommen. Bei Anwendung der anthropomorphistischen Be- trachtung muss man unterscheide die metaphysikalische und die psychologische Art. Zu welchen metaphysi- kalischen Ansichten der Anthropomorphismus führt, das ist in den früheren Aufsätzen erörtert worden. Etwas anderes aber ist es, ob wir uns von dem Innen- leben der verschiedenen Wesen, denen wir ein sol- ches nach Analogie zuschreiben, ein Bild machen können. Da freilich versagt die Kraft viel eher als bei der nur begrifflichen Verfolgung. Denn abge- sehen davon, dass im Grunde schon kein Mensch weder den andern, noch sich selbst ganz versteht, psychologisch ist uns eigentlich alles Uebermensch- liche und alles Untermenschliche ein vollkommenes Räthsel. Nicht nur der Ameisen Seelenleben, sondern auch das der höheren Thiere ist uns verschlossen. Ueberall sind wir auf den Begriff des Aequivalentes angewie- sen, d. h. wir setzen voraus, dass die seelischen Vor- Digitized by Google 222 VI. Ueber den Antfaropomorphismus. gänge, zu deren Annahme wir genöthigt sind, denen gleichwerthig seien, die unter ähnlichen Umständen in uns ablaufen würden. Nehmen wir ein Beispiel. Ein gehetzter Hirsch kommt an einen Graben; einen Augenblick stutzt er, dann setzt er mit dnem elegan- ten Sprunge hinfiber und flieht weiter. Was ist in dem Thiere vorgegangen? Jeder unbefangene Mensch antwortet etwa folgendes: Der Hirsch sah den Gra- ben; da die Verfolger hinter ihm waren, sagte er sich, du musst hinüber; dann schätzte er die Breite des Gra- bens, maass danach den Antrieb ab, den er sich geben musste, und gab sich thatsächlich gerade den rich- tigen Schwung. Nun ist es sicher, dass ein Aequiva- lent solches Denkens im Hirschen vorhanden gewesen sein muss, aber ebenso sicher ist, dass der Hirsch nicht ebenso gedacht hat wie ein Mensch. Würde er denken wie ein Mensch, d. h. in Worten, so würde er auch sprechen können. Die Frage geht also bei weiterer Fassung darauf, wie verläuft das Denken ohne Worte? Wir wissen es nicht, und dass wir es nicht wissen, wissen wir deshalb genau, weil unser eigenes Denken ohne Worte uns ganz unverständlich ist. Denkt man sich an die Stelle des Hirschen einen Menschen, der in der Todesangst über den Graben setzt, so wird der später nur sagen können, ich weiss nicht, wie ich es gemacht habe. In diesem Falle ist der Einwurf möglich, der Mensch habe seine Begriffe so rasch ge- ordnet, dass er sich später nicht darauf besinnen konnte. Wahrscheinlich ist es damit nichts, denn jede An- einanderreihung von Begriffen erfordert eine gewisse Digitized by Google CT 223 VI. Ueber den Anüiropomoiphismus. Zeit, und es ist anzunehmen, dass sehr rasch verlau- fendende geistige Vorgänge ein Denken ohne Begriffe, d. h. Worte, seien. Aber wir wissen ja, abgesehen von solchen Fällen, dass das wortlose Denken in uns eine grosse Rolle spielt Der Homo sapiens ist da, aber das starke Thier in uns muss ihn tragen. Der Aufbau unserer Wahrnehmungen aus den Sinnes- empfindungen, ihre Beziehung mxf Dinge ausser uns, kurz alles das, was Schopenhauer als Verstandesthätig- keit bezeichnet, die Lücken in unserem fast immer springenden Begriffsdenken, alles setzt eine Art von Denken voraus, von dem wir gar keine Vorstellung haben, das ganz dem Denken der Thiere gleichen muss. Die psychologischen Taschenspieler wollen uns zwar weis machen, sie wüssten, wie es zugehe, aber ihre Dariegungen sind Wind. Man hat von „unbewuss- ten Schlüssen" gesprochen. Der Ausdruck kann irre- führen, aber es liegt in ihm doch eine richtige Erkennt' niss. Es geht nämlich bei dem wortlosen Denken so zu, als ob wir Schlüsse machten, wir können es in Schlüsse auseinander ziehen, in das Logische über- setzen. I>iese Möglichkeit beweist uns ebenso wie die Beobachtung der Thiere, dass die geistigen Vor- gänge auch dann, wenn wir keine Ahnung von ihrer eigentlichen Beschaffenheit haben, unter denselben Ge- setzen stehen, wie unser Denken in Begriffen. Unbe- wusst kann man Schopenhauers „Verstandesthätigkeif* oder das thierische Denken nur insofern nennen, als keine Rechenschaft darüber gegeben werden kann. Wie eins ins andere übergeht, das sidit man daraus, Digitized by Google 224 VI. Ueber den Anthropomorphismus. dass bei leidenschaftlicher Erregung durch Todesangst, Zorn oder Liebe der Mensch aufhört, in Begriffen zu denken, in das rasche, sprachlose Thierdenken zurück- fällt Haben wir das vor den Thieren voraus, dass ein Theil unserer geistigen Vorgänge in Begriffen, d h. Worten, sich abspielt oder sich abspielen kann, so stehen wir doch in anderen Hinsichten wieder den Thieren gleich, da wichtige Vorgänge unserem Bewusst- sein und unserer Betrachtung für immer uns gänzlich unerfassbar sind. So ist es bei den Trieben. Wir fühlen, dass wir getrieben werden und auf welches Ziel hin, aber was treibt, das wissen wir nicht. So ist es auch bei dem Handeln. Wir wollen etwas, aber wie es kommt, dass wir die rechte Bewegung machen, und was während dieser seelisch geschieht, das ist nicht zu sagen. Denken wir wieder an den Sprung über den Graben. Aus einer sehr grossen Zahl von Muskeln muss eine grosse Zahl ausgewählt werden, und jedem Muskel muss ein genau bemessener An- trieb zukommen. Wer wählt und misst? Wir, d. h. das Wir, das wir kennen, thun es sicher nicht, weder mit eriogenen Bewegungsvorstellungen, noch ohne solche. Man sagt, wir üben uns die Bewegungen ein und erinnern uns dann an das Gefühl, das wir dabei gehabt haben. Das ist ja richtig, aber ebenso richtig ist, dass die unklare verschwommene Erinnerung an ein Gefühl uns nicht helfen kann, nicht die schwie- rige Arbeit, die verrichtet werden muss, erfolgreich leiten kann. Wenn wir im Tumsaale über ein „Pferd" springen wollen, so stossen wir uns vielleicht erst an Digitized by Google 225 VI. lieber den Anthropomorphismus. den Bauch, oder wir schiessen über das Oeräth hinaus. Nach einigen Versuchen aber geht es „von selbst", d. h. wir wissen nicht wie, und vergeblich besinnen wir uns, wie wir es eigentlich machen. Ein beliebter Einwurf ist, ja unsere Muskeln und Nerven haben ihr eigenes Gedächtniss, und dann kommen alle die geist- reichen Wortspiele über das Gedächtniss der belebten Materie, die Umschreibungen, aber nicht Erklärungen sind. Erinnerung ist und bleibt ein seelischer Vorgang. Im Bilde muss man den Organismus einem Heere vergleichen. Wir sind der Feldherr, die Muskeln sind die Soldaten. Der Befehl des Feldherrn hat nur dar- um den richtigen Erfolg, weil zwischen ihm und den Soldaten Stabsoffiziere, Truppenoffiziere und Unter- offiziere geordnet sind, die seinen Befehl deuten, ver- mitteln und richtig auf sich beziehen. Die Offiziere in uns kennen wir vom äusseren Ansehen, zum Theile wenigstens. Es sind die Apparate im Inneren des Gehirns und des Rückenmarkes. Aber damit ist für das psychologische Verständniss nichts gewonnen, und Der hätte von dem ganzen Gedankengange gar nichts verstanden, der mit der bisher dürftigen, aber vielleicht später zu vervollkommnenden physiologischen Einsicht zufrieden sein wollte. Ein Denken muss dahinterstecken, denn es handelt sich um Wählen und Messen, aber es ist nicht unser Denken. Also müssen noch Andere in uns denken, unsere Offiziere, und wir gleichen einem Feldherm, der befiehlt, aber nicht sieht, wie sein Befehl ausgeführt wird, der nichts hört von den Rufen der Adjutanten und der Hauptleute, der schliesslich mit Möbius, Werke. VI. 15 Digitized by Google 226 VI. Ueber den Anthropomorphismus. Erstaunen sieht, dass die Soldaten seine Worte befol- gen. Pflüger hat mit Recht von einer Rückenmark- seele gesprochen, aber das genfigt nicht; wir müssen ein ganzes System von Unterseelen in uns haben, das der militärischen Rangordnung entspricht Es kommt ihnen ebenso gut Sapientia zu, wie dem Homo sapiens, aber wir schliessen sie nur aus den Erfolgen, wie wir den Verstand der Thiere aus ihren zweckmässigen Handlungen erschliessen, sie sind ffiruns ein Jenseits, ein Unaussprechliches. Einerseits stossen wir überall auf das Unbegreifliche, andererseits giebt uns gerade die eingehende Betrachtung das Recht, weiter und weiterhin ein Aequivalent unseres Denkens anzunehmen. Steigen wir abwärts, sei es in uns, sei es draussen zu unsem Brfidem, den Thieren, und zu den weiteren Verwandten, den irdischen Organismen überhaupt, so haben wir noch ein leidliches Gefühl von Sicherheit, weil wir von dem Verwickelten zu dem Einfachen herabzusteigen glauben. Aber der Athem geht uns ganz aus, wenn wir den Blick auf die oberen Mächte richten. Was unter uns ist, das mag wohl alles auch in uns sein, aber über uns beginnt das ganz Neue. Der Mensch kann eher das Thier verstehen als das Thier den Menschen, und erst recht kann die Zelle nicht den ganzen Organismus verstehen. Die nächst- höhere sichtbare Einheit über uns ist natürlich die Erde, und zu ihr stehen wir etwa in dem Verhältnisse wie eine einzelne Zelle zu uns, wiewohl manches anders sein möchte, z. B. das Verhältniss zwischen der Dauer des Einzelorganismus zu der des Oesammtorganismus. Digitized by Google 227 VI. Uebcr den Anthropomorphismus. Auf jeden Fall ist der Abstand so gross, dass matt sich nach Zwischeninstanzen sehnt Zwar sichtbar abgegrenzt sind solche nicht, aber der Hinblick auf uns selbst lässt sie doch als möglich erscheinen. Denn auch in unserm Nervensystem sind die einzelnen Appa- rate oder Behörden nicht getrennt, und der groben Betrachtung ist das Ganze eine ziemlich gleichmässige Masse. Es ist daher sehr wohl denkbar, dass zwischen den Geistern der einzelnen Organismen und dem Geiste des ganzen irdischen Reiches ein gegliedertes Zwischen- reich besteht, aber es möchte verwegen sein, die Ver- muthung ins Einzelne zu verfolgen. Wie wir anneh- men, dass das Schema des geistigen Lebens für uns und für alle einfacheren Organismen gelte, dass das Aequivalent grundsätzlich eine Uebersetzung in das Logische gestatte, so wird der Schluss auch nach oben hin gelten, wir werden auch bei den oberen Mächten ein Ich voraussetzen, das wahrnimmt, denkt und han- delt. Dafür spricht ja schon die physikalische Be- trachtung, die im Grossen und im Kleinen dieselben Gesetze und dieselben Stoffe erkennen lässt. Jeder Wirkende ist, indem er wirkt, frei und zeitlos. Er setzt Zwecke und ist in ihrer Verwirklichung nur Ursache^ nicht Wirkung. Wie ihm sein Wille der Herrscher zu sein scheint, so die Zeit das an ihm Vorüberfliessende, er selbst das Feste. Diese Art von Freiheit muss jeder Seele zukommen, dem einfachsten und dem höchsten Individuum, und ebenso wird, von aussen gesehen, auch das Höchste den allgemein geltenden Gesetzen unterworfen sein und sich einfügen in die Ordnung 15* Digitized by Google 228 VI. Ueber den Anthropomorphismus. des Ganzen. Begreiflich ist uns die Sache da nicht und dort nicht. Weiter reicht die Psychologie der oberen Mächte kaum. Nur das dürfen wir wohl noch annehmen, dass für unser Wünschen und Streben die gleiche Richtung vorgeschrieben sei wie für Das, was über uns ist Wir fühlen uns nur dann wohl, wenn alle unsere Theile annähernd in gutem Zustande sind. Kleinere Störungen werden eine Zeitlang ertragen, schliesslich aber, oder wenn sie sich vergrössem, werden wir be- lästigt und suchen auf irgend eine Art Abhilfe. So mag wohl auch unsere richtige Beschaffenheit zum Wohlsein der höheren Einheiten, denen wir als Theil angehören, beitragen. Je besser Einer „functionirf*, d. h. je tüchtiger er in sich und je nützlicher er für Andere ist, um so mehr wird er auch im Sinne der höhe- ren Mächte sein. Taugt er nichts, so wird ein Streben dahin gehen, ihn abzuändern oder, wo das nicht thun- lich ist, ihn zu beseitigen. Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig. Digitized by Google Digitized by Google Digitized by Google Digitized by Google Digitized by Google